Europäische Arbeiterbewegungen
Historiker Klaus Tenfelde hielt Guericke-Vorlesung
Zur 9. Otto-von-Guericke-Vorlesung hatte Rektor Prof. Dr. Klaus Erich Pollmann kurz vor Ende des Jahres 2000 Prof. Dr. Klaus Tenfelde, Leiter des renommierten Institutes für soziale Bewegungen (ISB), vormals Institut zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung (IGA), an der Ruhr-Universität Bochum eingeladen. Er hielt einen Vortrag zu "Europäischen Arbeiterbewegungen im 20. Jahrhundert".
Einleitend hob Prof. Tenfelde hervor, dass Geschichte mehr sei als die Wahrheit über das Gewesene. "Geschichte sei immer auch die angemessene Interpretation des Gewesenen im Lichte der jeweiligen Gegenwart." Kern des Vortrages war das Problem der politischen Sozialisation unter den Bedingungen der Staatsformen in den europäischen Gesellschaften bis zum Ersten Weltkrieg und die Fernwirkungen solcher Sozialisation im weiteren 20. Jahrhundert.
Milieubetrachtungen
Einer Typisierung europäischer Arbeiterbewegungen stellte Klaus Tenfelde eine milieutheoretisch orientierte Betrachtung voran. Die Prägung des Milieubegriffs sei ein wesentlicher Fortschritt in der Geschichtsschreibung. Milieus entstehen aus einander überlappenden und sich darin verdichtenden Netzwerken von Bindungen und Beziehungen. Teils sind sie geographisch, teils durch Herkommen, Alter, ethnische, Konfessions-, Klassen- oder Schichtzugehörigkeit bestimmt. In der deutschen Geschichte kommt dem "katholischen" und dem "sozialdemokratischen" Milieu große Bedeutung zu. Eine milieubezogene Betrachtung zeigt, in welchem Umfang die gegebene politische Kultur die Arbeiterbewegung formte.
Prof. Tenfelde unterstrich, dass unter der Bedingung sich unterschiedlich schnell industriealisierender Gesellschaften vermutlich die Staatsform und die darin begründeten Reformfähigkeiten der Arbeiterbewegungen entscheidend geprägt und deren Verhältnis zu Demokratie und Moderne bestimmt haben. Er versuchte dies anhand einer Typisierung der europäischen Arbeiterbewegungen zu verdeutlichen. Dabei ging er von einer Dreiteiligkeit des europäischen Staatengefüges aus: westlich-demokratische, konstitutionelle bzw. semi-autoritäre und autokratische Nationen. Hinzu kam als vierter Typ die USA.
Mit einem Blick auf die Zeit nach 1945 verwies er darauf, das von der Peripherie ausgehend die Entwicklung der europäischen Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit eine geradezu erstaunliche Konvergenz aufwies. Während in kleinen Staaten ununterbrochen fortreformiert wurde, beschritt Westdeutschland unter den größeren Staaten vielleicht den raschesten Reformweg. Dort, wo kommunistische Parteien stark waren, blieb die programmatische Entwicklung der sozialdemokratischen Partei gehemmt.
Zusammenfassend stellte Prof. Tenfelde fest, dass es im sozialen und politischen Prozess, der in Europa die Sozialdemokratien teilweise vor den Gewerkschaften konstituierte, sehr wesentliche Ähnlichkeiten gab, die sich aus der vereinheitlichenden Erfahrung der kapitalistischen Märkte herleiten, dass es einen "europäischen Typus" von Arbeiterbewegung gegeben hat und gibt, der auf der "Erfindung der Sozialdemokratie" beruhte und der durch sozialdemokratische Parteibildung gekennzeichnet war.
Die Geschichte der Sozialdemokratie habe eine Ideenfülle sonder gleichen, unterstrich Klaus Tenfelde. Sie berge neben der Möglichkeit der Irrtümer, den Fehlorientierungen und programmatischen Fehlwegen vor allem das Engagement für Minderpriviligierte in den Positionskämpfen der freien Gesellschaft. Er empfahl jedoch auch die radikalen Traditionen der Arbeiterbewegung zu betrachten. "Es ist letztlich das Format der bürgerlichen Gesellschaft in einer sozialdemokratischen Prägung, das in Zukunft Bestand haben und mehrheitsfähig sein wird", schloss er seinen Vortrag.