Wissenschaft und Wahrheit

06.11.2003 -  

Prof. Dr. Jörn Rüsen

Jahrestage seien Anlass, inne zu halten, den Stand der Dinge zu reflektieren und Zukunftsperspektiven zu entwerfen, führte Prof. Dr. Jörn Rüsen, Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, in seinen Vortrag ein. Was anderes als die Universität als Ort der Wissenschaft kann im Rahmen eines Universitätsjubiläums Gegenstand einer Betrachtung zum Thema Wissenschaft und Wahrheit - Anmerkungen eines Historikers sein. Seit der humboldtschen Reform sind Forschung und Lehre an den Universitäten eine Synthese eingegangen. Inzwischen ist eine dritte Komponente, die Praxis, hinzu gekommen, woraus sich sowohl Chancen als auch Probleme ergeben. Neben den von der Praxis ausgehenden innovativen Impulsen werde jedoch freie Grundlagenforschung als unverzichtbare Bedingung des Erkenntnisfortschritts und des wissenschaftlichen Wissens durch das Einklagen des praktischen Nutzens in Frage gestellt. Das sei nicht gut, so Rüsen.

Wie nun gestalte sich das Verhältnis von Wissenschaft und Wahrheit? Seien es nicht die Wahrheitsansprüche des Wissens in Forschung, Lehre und Praxisbezug, die die Eigenart der Universität im kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Leben bestimmen, die sie unverzichtbar machen, in denen ihre Würde bestehe? Das Pathos des Wahrheitsmonopols ist abhanden gekommen, findet nur noch wenig gesellschaftliche Resonanz. Die Universitäten jedoch leben von besonderen Wahrheitsansprüchen, darauf beruht ihr Selbstverständnis. Was aber ist Wahrheit? Die eine einzige Wahrheit gibt es nicht. Hier geht es um einen Prozess. Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess hat seine besondere Qualität darin, dass er methodisch verfasst ist. Jede Fachdisziplin verfügt über ein eigenes methodisches Arsenal. Dennoch es gibt auch Gemeinsamkeiten quer durch alle Disziplinen: den konstitutiven Erfahrungsbezug und die Begrifflichkeit des Denkens. Die Vielfalt begrifflicher Konzepte und methodischer Verfahren sei eine Auszeichnung des wissenschaftlichen Denkens, fasste Professor Rüsen zusammen. Dadurch, dass Methode und Begrifflichkeit auf die Spitze der logischen Möglichkeiten getrieben werden, reiche das wissenschaftliche Wissen weit über das Alltagswissen hinaus. Mit der Ethik des wissenschaftlichen Denkens ist die Universität als Ort der Wissenschaft in Forschung, Lehre und Praxisbezug zu einem unverzichtbaren Teil der Kultur der Gegenwart geworden. Aus dieser praktischen Vernunftdimension des wissenschaftlichen Denkens an der Universität verwies Prof. Rüsen auf eine grundsätzliche Bildungsfunktion, der die Universitäten nicht ausreichend Rechnung tragen würden. Er plädierte dafür, dass fachliche Kompetenz untrennbar einhergehen sollte mit einer reflexiven Kompetenz, die den kulturellen Sinn des wissenschaftlichen Denkens betreffe. Der Redner sprach sich für eine Art "Studium fundamentale" aus, dass Fachleute mit Reflexionskompetenz hervorbringe.


Die Norddeutsche Landesbank (NORD/LB), Mitteldeutsche Landesbank unterstützte die Vorträge in der Festwoche finanziell.

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