Ein Abend in der russischen Provinz
Erster Theatertag an der Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften
Am einem feuchten und kalten Novembertag im Jahre 2007 versammelten sich junge Akademiker im Schauspielhaus des Magdeburger Theaters. Es fand der erste Theatertag der Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften statt! Motiviert durch die studentenfreundlichen Kartenpreise, durch Aufforderungen der Professoren und, vielleicht und hoffentlich, durch das Interesse am russischen Drama haben sie sich auf die Inszenierung von Anton Tschechows Die Möwe, eines der meistgespielten Stücke des 20. Jahrhunderts, eingelassen.
Tschechows Drama, diesmal unter der Regie von Tobias Wellemeyer, erzählt aus dem Leben einer zerrütteten Familie in der russischen Provinz. Irina Arkadina, eine berühmte Schauspielerin aus Moskau, reist zusammen mit ihrem Liebhaber, dem Schriftsteller Trigorin auf das russische Land.
Wirr gestriktes Netz
Ihr Sohn Kostja, ein angehender Schriftsteller, möchte seiner Mutter beweisen, dass auch er fähig ist, etwas Künstlerisches zu schaffen. Zusammen mit Nina, einem Mädchen vom Land, das von der großen Karriere als Schauspielerin träumt, inszeniert er ein Theaterstück, welches allerdings von niemandem verstanden wird, und mit dem er nur den Spott seiner Mutter erntet. Die Inszenierung wird vorzeitig abgebrochen und Kostja, der sich unverstanden fühlt, zieht sich zurück. Aus dem wirr gestrickten Netz von Beziehungen resultieren zusätzliche Konflikte: Alle Liebschaften dieses Netzes sind zum Scheitern verurteilt. Zwischen dem dritten und vierten Akt liegen zwei Jahre. Doch auch diese Zeitspanne vermag nicht die Spannungen zwischen den Helden zu lösen. Unfähig, sein gescheitertes Dasein noch länger zu ertragen, findet Kostja die einzige Erlösung im Selbstmord.
Nostalgisches Bühnenbild
In der Magdeburger Aufführung lässt Regisseur Tobias Wellemeyer die Handlung irgendwann im 20. Jahrhundert ablaufen. Der Haupteindruck des Bühnenbilds ist nostalgisch: eine heruntergekommene langweilige Provinz im Herzen Russlands oder irgendwo anders - der Verfall scheint der einzige Hinweis auf Russland zu. Auch in den weiteren Szenen wird der russische Kontext nicht konsequent verfolgt: Trotz der Verwendung von russischen Klischees kommt es zu einigen inhaltlichen Widersprüchen. Orthodoxe Ikonen finden sich in einer Reihe mit Abzeichen aus der kommunistischen Zeit. Die archaische Lexik aus Tschechows Texten tritt in der bunten Umgebung der deutschen Umgangsprache auf.
Eine besondere Rolle spielt die Musik in dieser Aufführung. Tobias Wellemeyer selbst sagte, dass die Spielweise eine gestimmte Musikalität haben müsse (Programmheft). Tatsächlich ist es so, dass die Musik ihren Raum bekommt und als Motiv immer wieder auftaucht. Besonders hervorzuheben ist die Geigenmusik zu Beginn des ersten Akts, die einhergeht mit dem Geschrei der Möwen. Dieses Motiv taucht immer wieder im Laufe des Stücks auf, vor allem bei Auftritten von Nina und Kostja und unterstreicht sehr schön die Sehnsucht nach Veränderung, die die beiden empfinden.
Allgemein bekommt Die Möwe in dieser Inszenierung die Färbung einer Situationskomik. Alle Figuren machen sich etwas lächerlich und sind irgendwo doch ganz ernst. Dem Tschechow-Text gegenüber verändert sich nicht nur die gesamte Atmosphäre des Stücks, sondern manche Charaktere werden auf eigene Art dargestellt.
Videoinstallation
Die Titelfigur der Möwe, Nina, erhält auf der Magdeburger Bühne wesentlich mehr Aufmerksamkeit, als Tschechow es vielleicht gewollt hätte, da normalerweise in seinen Stücken keine zentrale Hauptfigur vorgesehen ist. Maria, obwohl viel grober und runtergekommener, als im Text dargestellt, erscheint in dieser Inszenierung schärfer als bei Tschechow. Gleichzeitig fehlt es den anderen Figuren, z.B. Arkadina und Dorn, an Stärke, Konsequenz und Klarheit.
Die Schwächen der schauspielerischen Leistung werden überraschender Weise durch den gekonnten Einsatz einer Videoinstallation zwischen dem dritten und vierten Akt ausgeglichen. Inmitten der Bühne erstarrt Nina und die Welt scheint sich um sie zu drehen: In der Realität und auf der Leinwand wird das Bühnenbild abgebaut. Dies schafft eine Brücke zwischen Welten - Realität und Fantasie, Vergangenheit und Zukunft. Das gleichzeitige Abspielen eines russischen Liedes aus den 1980er Jahren, das eigentlich nichts mit der Intension des Stückes zu tun hat, lässt den russischen Kontext des Dramas weiterleben.
Mit diesem Stück versucht das Magdeburger Schauspielhaus einmal mehr, Theater für junge Leute zu machen. Dies war ein Versuch, ein klassisches Stück in unsere Zeit zu transportieren. Trotz der modernen Inszenierung lebt Tschechow immer noch zwischen den Zeilen seiner Helden: Seht euch an, seht, wie schlecht und langweilig ihr lebt! Das Wichtigste ist, dass die Menschen dies verstehen, und wenn sie es verstehen, werden sie sogleich ein anderes, besseres Leben für sich schaffen …