Auf Reformen hofft niemand mehr
Russischer Wissenschaftler zur aktuellen Bildungspolitik in seiner Heimat
Der Chefredakteur der russischen Zeitschrift Pedagogika und Vize-Präsident der Russischen Akademie der Bildung, Prof. Dr. Vladimir Borisenkov, war Gast des Lehrstuhls Historische und Vergleichende Erziehungswissenschaft. In Vorträgen machte er auf die derzeitige Situation der Bildung und Erziehung in Rußland aufmerksam. Er informierte über Probleme und Widersprüche, die am Ende des 20. Jahrhunderts einen globalen Charakter angenommen haben und sich besonders kraß in Rußland zeigen. Trotz der voranschreitenden Technik und des wachsenden Wohlstands in der modernen »westlichen« Welt, habe man es nicht geschafft, der Masse der Weltbevölkerung einen Zugang zu elementaren Dingen des Lebens, wie Arbeit und Bildung, zu ermöglichen. Der Goldenen Milliarde, die in den entwickelten Ländern lebt, stehen fünf Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern gegenüber. Borisenkov konstatierte, daß Bildung bei der Lösung der globalen Probleme der Menschheit eine wesentliche Rolle spielt.
Nach einem kurzen historischen Exkurs stellte er weiter fest, daß sich die Bildung in Rußland in einer Krise befindet und der Staat ihr immer weniger Aufmerksamkeit schenkt. Er führte weiter aus, wenn die Regierung Jelzin nicht bereit bzw. nicht in der Lage sei, für die Bildung genügend Mittel zur Verfügung zu stellen, werde sie dieses Geld für den Bau von Gefängnissen benötigen. Die Diskussionen über Reformen im russischen Bildungswesen würden sich verschärfen, weil das Wort "Reform" in Rußland bei den meisten eher "allergische" Reaktionen hervorruft - aufgrund der schon inflationären und folgenlosen Wiederholungen. Oft würden sie angekündigt, kämen aber nicht zum Abschluß, da man ihnen keine Zeit zur Festigung lasse. Professor Borisenkov stellte abschließend die Frage nach der Position Rußlands in der zukünftigen Welt. Wenn Rußland mehr als nur Rohstofflieferant sein wolle, müsse die Bildung wieder die Priorität zurückbekommen, die sie z.B. in den 50er Jahren hatte.
Der Aufenthalt des Wissenschaftlers in Magdeburg geht auf Vereinbarungen über eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen der von ihm geleiteten Redaktion und dem Lehrstuhl für Historische und Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Magdeburg zurück. Anläßlich des Aufenthaltes von Professor Borisenkov wurde eine Intensivierung dieser Zusammenarbeit vereinbart.