Tor zum Bewußtsein
Leibniz-Preis an Magdeburger Neurowissenschaftler
Nachdem bereits 1997 ein Wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (Prof. Dr. Ingo Rehberg) mit dem Leibniz-Preis geehrt wurde, ging auch 1998 einer der Förderpreise wieder an einen Forscher aus der Elbestadt. Im Februar 1999 wurde, in Anwesenheit des Bundespräsidenten, die mit drei Millionen Mark dotierte Auszeichnung vom Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft an den Physiologie-Professor Dr. Hans-Christian Pape übergeben.
Selbst sieht sich der Preisträger nur als einen Magdeburger Hirnforscher unter vielen. "Geehrt wird die Gruppenleistung der Institutsmitarbeiter und die Qualität der neurowissenschaftlichen Forschung in Magdeburg", meint Prof. Pape in aller Bescheidenheit. Vor fünf Jahren war er auf den Physiologie-Lehrstuhl der Medizinischen Fakultät berufen worden. Die wissenschaftlichen Fragestellungen, die seine vim Kultusministerium Sachsen-Anhalt geförderte Arbeitsgruppe bearbeitet, betreffen die Organisationsprinzipien des Säugetiergehirns und die Funktionsabläufe, die es steuern. Dabei konzentrieren sich die Wissenschaftler im wesentlichen auf zwei Hirnstrukturen: den Thalamus und die Amygdala. Beide sind Teile eines entwicklungsgeschichtlich alten Teils des Gehirns, der für die Erhaltung der Art und die Prägung des Individuums entscheidend ist.
Die Nervenzellen des Thalamus sind zum Beispiel eine wichtige Durchgangsstation der von Sinnesorganen wie Augen, Ohren und Haut kommenden Signale auf ihrem Weg in Gebiete der Großhirnrinde und andere Regionen des Gehirns, in denen die Endverarbeitung der Sinnesinformation erfolgt. Ihre elektrische Aktivität schwankt in Abhängigkeit von Schlaf- und Wachphasen. Während des Wachzustandes funktionieren die Nervenzellen als getreue Schaltzellen für die Übertragung der Sinnessignale. Andererseits können diese Zellen auch rhythmische Aktivitätssalven produzieren. Dadurch wird die Weiterleitung der Sinnessignale gestört und die Antwortbereitschaft des Gehirns auf die Sinnessignale vermindert, Mensch und Tier beginnen zu schlafen.
Beiden Funktionen verdankt der Thalamus auch seine Bezeichnung als ein Tor zum Bewußtsein. Es gibt aber auch pathologische Formen dieser Prozesse. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von generalisierten Formen der Epilepsie, wie den Absence-Anfällen der sogenannten Petit-Mal-Epilepsie.
Spontan rhythmisch-elektrische Entladungssalven
Die davon Betroffenen erleben aus heiterem Himmel Zustände kurzer Geistesabwesenheit, an die sie sich später nicht mehr erinnern können. "Wir haben Ansätze und Methoden entwickelt, um die Aktivitätszustände der taktgebenden Thalamusneurone im Schnittpräparat und in isolierten Nervenzellen weitgehend zu erhalten", sagt Prof. Pape. So ist es den Forschern möglich, die Mechanismen der Steuerung von Wachheit und Schlaf auf subzellulärer und zellulärer Ebene zu analysieren und die dabei gewonnenen Erkenntnisse gezielt im intakten Gehirn zu überprüfen. "Wir konnten so zum Beispiel zeigen, daß die Thalamusneurone als Schrittmacher funktionieren. Ähnlich wie bestimmte Herzzellen produzieren sie spontan rhythmisch-elektrische Entladungssalven", erläutert der Physiologe. Mehrere Gene und Neurotransmitter regulieren die Schrittmacherfunktion, darunter das wachmachende Noradrenalin und das Stickstoffmonoxid.
Bei Störungen dieser Balance kann das System "entgleisen". Eine der möglichen Folgen ist das Auftreten eines Absence-Anfalles. Einen derart fehlgeleiteten Prozeß haben die Forscher analysiert. Die Erkenntnisse könnten einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Entwicklung einer gezielten Therapie bilden.
Ein weiterer Schwerpunkt der Aktivitäten am Institut für Physiologie ist die Aufklärung von Prozessen in einer mandelkernförmigen Struktur des Gehirns – der Amygdala. Die Nervenzellen der Amygdala helfen u.a. dabei, emotional bedeutsame Wahrnehmungen dauerhaft im Gehirn zu verankern. Die Arbeitsgruppe befaßt sich mit der Aufklärung der anatomischen und physiologischen Grundlagen von Funktion und Fehlfunktionen des "Mandelkerns" im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereiches 426 Limbische Strukturen und Funktionen, dessen Sprecher Prof. Pape ist. Auch im "Mandelkern" gibt es Schrittmacherzellen, die eine zeitliche Eingliederung in rhythmische Netzwerkaktivitäten benachbarter limbischer Schaltkreise ermöglichen. Dadurch wird offenbar das Lernen emotional bedeutsamer Ereignisse gefördert.
Das emotionale Erinnern
Um die Vorgänge zu verdeutlichen, erklärt der Forscher sie am Beispiel eines Autounfalls: "Die Erinnerung daran beinhaltet emotionale Elemente, wie die Furcht beim nochmaligen Hören der Autohupe des Unfallfahrzeuges und auch sogenannte deklarative Elemente, wie die Erinnerung an das Datum des Unfalles. Für die emotionalen Elemente ist die Amygdala zuständig. Die Rhythmen ihrer Nervenzellen übernehmen wichtige Funktionen bei der Verbindung von emotionalen und deklarativen Komponenten der Gedächtnisbildung." Diese Studien sind auch von klinischer Bedeutung. Funktionsstörungen der Amygdala-Zellen sind zum Beispiel an Erkrankungen mit Gedächtnisverlust, an Temporallappen-Epilepsien und an einigen häufigen psychiatrischen Erkrankungen beteiligt.
Die Auszeichnung der DFG ist eine willkommene Unterstützung, denn die Arbeitsgruppe um Prof. Pape hat noch viel vor. Bereits bestehende Kooperationen zu anderen Arbeitsgruppen der Universität und des Leibniz-Instituts für Neurobiologie Magdeburg sollen weiter ausgebaut werden. "Wir können jetzt auch neue Pfade betreten, die an unsere bisherigen Forschungen anknüpfen", verrät der Wissenschaftler. So seien in Zusammenarbeit mit Arbeitsgruppen um Prof. Henning Scheich vom Leibniz-Institut und um Prof. Hans-Jochen Heinze von der Klinik für Neurologie II Studien mit nichtinvasiven bildgebenden Verfahren (Magnet-Enzephalographie und funktioneller Kernspinresonanz-Tomographie) in Thalamus und Amygdala geplant, um die Bedeutung der zellulären Mechanismen für das menschliche Verhalten besser zu verstehen. Auch eine Ausdehnung molekulargenetischer Forschungen in Zusammenarbeit mit Prof. Eckart Gundelfinger vom Leibniz-Institut scheint nunmehr möglich.
Sorgen bereitet dem Biomediziner allerdings der Mangel an wissenschaftlichen Nachwuchskräften. "Ausbildung und Ausstattung sind hier ebenso gut und teilweise sogar besser als in den alten Bundesländern. Leider hat sich das noch nicht bei allen Studenten und Nachwuchswissenschaftlern herumgesprochen, die noch immer vor dem Sprung in den Osten zögern", stellt der Biomediziner enttäuscht fest. "Der geplante und in Deutschland in seiner Art einmalige Studiengang für Neurobiologie der medizinischen und der naturwissenschaftlichen Fakultät an der Otto-von-Guericke-Universität wird helfen", so ist die Hoffnung des Forschers, "weitere Brücken zu schlagen."
Uwe Seidenfaden