Goethes Diagnose der Moderne
oder: Auch ich war in Weimar
Geneigter Leser,
ich habe mich entschieden, Dir heute einen Brief zu schreiben. Ein Brief im Zeitalter der modernen Datenverarbeitung, der Kommunikationsgesellschaft, wo jeder jederzeit erreichbar ist. Nein, ich sende Dir keine E-Mail, schicke kein Fax, rufe nicht an, nein, ich schreibe; auch wenn ein Brief im Vergleich zur Datenautobahn vielleicht wirkt wie ein Pferdefuhrwerk auf der A2. Ich ließ mich von dem großen Geheimrat inspirieren, der sogar mit Schiller im Briefwechsel stand, obwohl dieser nur einige Minuten entfernt wohnte. Ich schreibe heute nicht, weil ich konservativ, Neuem gegenüber verschlossen oder einfach nur unfähig bin, einen Computer zu bedienen, sondern weil ich absichtlich "unmodern" sein will. Anläßlich des 250. Goethegeburtstages nahm ich an einem Symposium der Stiftung Weimarer Klassik über Goethes Diagnose der Moderne unter der Leitung von Prof. Dr. Lothar Ehrlich teil. Diese Diagnose fiel nicht gerade rosig aus.
Ich habe mich entschlossen, Goethes kritischen Blick anzunehmen und ihn auf unsere moderne Gesellschaft zu richten, ich will sozusagen Goethes "kritische Brille" aufsetzen (Obwohl er diese Formulierung sicher brüskiert von sich gewiesen hätte, da ihm optische Hilfsmittel jeglicher Art zuwider waren; Brillenträger verabscheute er geradezu als Menschen, die sich hinter ihren Spekuliereisen versteckten.). Ich selbst, holder Leser, nenne mich eines solchen optischen Gestells glücklicher Besitzer und bin entsetzt von der Vorstellung, daß mich Goethe aus diesem Grunde hätte abweisen können! Der Vortrag Sonja Zimmermanns von der FernUniversität Hagen ließ jedoch an Goethes Abneigung gegenüber optischen Geräten keinen Zweifel aufkommen. Dennoch war ich froh, bebrillt die Architektur Weimars genießen zu können. Die restaurierten alten Häuser verleihen der Stadt ihr ganz eigenes Flair – atmosphärisch Kleinstadt, aber doch mit Großstadtambitionen, gemessen am Angebot an Kultur und Leben im Stadtzentrum.
Doch ich schweife ab. "Modern" ist eine dieser Bezeichnungen, die geradezu nach einem Gegenbegriff ruft: "antik" wäre bei Goethe zu setzen. Die Antonyme "antik" und "modern" spiegeln jedoch nicht das gesamte Spektrum von Goethes Konzeption des Modernen wider. Dem Vorhaben, jene Facetten näher auszuleuchten, hatten sich die Referenten aus Magdeburg verschrieben: Prof. Dr. Wolfgang Adam, Dr. Holger Dainat, Mandy Funke, Katja Kauer und Jens Hegemann setzten sich damit in ihren Beiträgen auseinander.
Einen großen Teil der Goethezeit bezeichnen wir heute als "Weimarer Klassik". Die klassische Antike bot Goethe Vorbild und Orientierung an einer Vergangenheit, in der die Natur noch unbegrenzt zugänglich war. Unsere moderne Gesellschaft hingegen hat uns ganz anders ausgerichtet. Wir streben immer vorwärts, nicht erhaltend, wir befinden uns im Sprint zur Jahrtausendwende, alles hechelt der Zukunft entgegen. Die Moderne hat ausgedient, Postmoderne (oder doch schon Post-Post-Moderne?) ist das neue Schlagwort. Wir halten das Bewußtsein für erstrebenswert, etwas hinter uns gelassen zu haben. Deswegen heben wir auch das "Nach" so hervor und nicht, wie Goethe, das Vergangene, seine Schönheit und Vollkommenheit. Wir blicken nicht orientierungssuchend zurück und wenn wir es tun, dann meist voller Schrecken, wie es nicht wieder werden soll.
In diesem Zeichen sehe ich die dreiteilige Ausstellung, die in Weimar gezeigt wurde: Aufstieg und Fall der Moderne. Der erste Teil der Ausstellung präsentierte die Klassische Moderne in Weimar. Teil II und III wurden überschrieben mit Die Kunst dem Volke - erworben: Adolf Hitler und Offiziell und Inoffiziell - Die Kunst der DDR. Adolf Hitler und das Dritte Reich ragen wie ein Mahnmal auf der Landkarte der deutschen Geschichte auf. Die Verbrechen und die Unmenschlichkeit, von denen diese Zeit geprägt war, rechtfertigen das moderne Bestreben, das hervorzuheben, was wir überwunden haben. Auch die Ausstellung selbst, die das "populistische und banale Kunstverständnis" Hitlers dokumentierte, macht diese Haltung verständlich. Die Kunst der DDR hingegen ist durchaus ambivalent zu sehen und sollte nicht durch eine pauschale Aburteilung in die Schublade der "glücklich überwundenen Vergangenheit" geschoben werden. Die völlig unsystematische Präsentation der Bilder in der Weimarer Ausstellung jedoch kam einer Degradierung der gesamten, obwohl qualitativ sehr unterschiedlichen, DDR-Kunst gleich. Die Kritik an der Zusammenstellung der Bilder fand ja in der Presse aus dem gesamten Bundesgebiet ihren Niederschlag. Die Freiheit der modernen Presse, die es erst ermöglicht hat, öffentlich Kritik zu üben, hätte in Goethe eher einen Skeptiker gefunden. Überraschend mußte ich während des Symposiums feststellen, daß auch heutzutage die Gegner der Pressefreiheit noch nicht ausgestorben sind. Jannet Neiser von der Freien Universität Berlin formulierte die riskante These "Zensur als Chance" und sprach sich für die Einführung einer modernen Zensurbehörde aus. Sie sah sich im Anschluß zahlreichen Gegenargumenten ausgesetzt.
Wenn ich ihre Position auch nur schwerlich nachvollziehen kann, erscheint mir Goethes Reserviertheit gegenüber der absoluten Pressefreiheit schon eher begreiflich. Diagnostizierte er doch mit Blick auf die anbrechende Moderne seiner Zeit eine Krankheit, die der Subjektivität und Schwäche, deren Verbreitung er zu verhindern hoffte. Das Moderne verkörperte sich für ihn in den Romantikern und ihrer kränklichen, schwachen Art mit literarischen Stoffen umzugehen. Der alternde Goethe sah sich in einer Zeit gefangen, in der er das Objektive und Gesunde repräsentierte, entgegen den modernen Tendenzen, die er als rückschrittlich und subjektiv einstufte. Wenn ich nun den Blick auf unsere Gesellschaft richte, läßt mich auch einiges an deren "Gesundheit" zweifeln. Ist es denn nicht besorgniserregend, ja fast Ausdruck einer krankenden Seele, wenn die Manie und Begeisterung um Goethe Dimensionen erreichen, in denen Mittel und Wege gefunden werden, um das Goethegartenhaus gleichsam zu duplizieren, ja zu klonen?
Mit dem Nachbau-zum-Anfassen-Hinsetzen-Reinlegen wollen wir Goethe "erlebbar" machen. In einer Zeit, in der sich Bungee Jumping, Sky Diving und Achterbahnen, welche High-Tech-Geschossen gleichen, als florierende Modesportarten etabliert haben, kann ein Goethe nur zum Anschauen, aber nicht Anfassen, nur zum Zuhören, aber nicht selbst Ausprobieren nicht mehr mithalten. Wir wollen Entertainment, Show, Spannung überall. Daß Weimar so zu einem reinen Themenpark verkommt, bemerkt kaum jemand. Es genügt, ein Photo zu schießen oder das konsumierte Kulturgut gar "live" auf Videoband zu bannen - und das Soll an Goethekultur im Goethejahr in der Kulturhauptstadt Europas 1999 ist erfüllt. Die Konsumgesellschaft gibt sich mit etwas Alibi-Kultur zufrieden, fordert stattdessen mehr unmittelbares Erleben und Rausch. Diesen Trend der modernen Gesellschaft verarbeiteten Ragna Kirck, Danielle Winter und Christiane Moldt der Universität Hannover in einer Regiekonzeption zu Faust II. In amüsanter Nähe zu Katja Kauers Vortrag, der die "unmoderne" Haltung Goethes gegenüber Frauen thematisierte, die er als schöne, aber nicht verstandesbegabte Wesen charakterisierte, konnte ich bei einer Führung in seinem Haus am Frauenplan mit Erstaunen Ausführungen darüber lauschen, wie wichtig und verantwortungsvoll doch die Rolle der Frau im Haus war. Da reichte es nicht, gut zu kochen und nett auszusehen, der gesamte Haushalt mußte exakt organisiert werden, um ihn zu bewältigen: Bedienstete wollten angeleitet, Bestellungen erledigt, Gäste empfangen, die Tiere versorgt und Nahrung beschafft sein, zudem sollte noch der Behaglichkeit im Hause Rechnung getragen werden.
Im gelben Zimmer erfahre ich, daß sich Goethe bei der Farbgebung von seiner Farbenlehre inspirieren ließ: Gelb sei die Farbe am nächsten zum Licht, sanft und munter zugleich. Da fällt mir ein, auch ich nenne ein gelbes Zimmer mein eigen, ich bin beruhigt und verzeihe Goethe die abfälligen Bemerkungen über mein Nasenfahrrad, denn auch ich lebe ganz in des Großen Manier. Jedoch als wir auf die Kombination der gelben Wände mit einer rosafarbenen Decke und in blau gehaltenen Bildern aufmerksam gemacht werden, kann ich meinem modernen Geschmack nicht trotzen und werde das Gefühl nicht los, daß es doch schon eher antiquiert, wenn nicht gar, Entschuldigung Herr Geheimrat von Goethe, kitschig auf mich wirkt. Übrigens, so "unmodern" wie ich mich anfangs gab, war ich nicht. Ich gebe es zu, geschrieben wurde nicht mit einem Federkiel bei Kerzenschein, sondern getippt, am Computer, im Lichtkreis einer Halogenlampe. Am Ende habe auch ich meine Modernität nicht verleugnen können.
Jeannette Godau, Studentin
PS: Ein Hinweis an allzu kritische Vertreterinnen aus feministischen Kreisen. Dieser Brief ist auch an alle Leserinnen gerichtet. Es ist mir bewußt, daß ich die weiblichen Formen vernachlässigt habe, aber das ewige "-in" und "-innen", das "sein/ihr" und "geschätzter/geschätzte" - wo bleibt denn da der Sprachgenuß?