Auf verlorenem Posten
"Shoppen & Ficken" von Marc Ravenhill
Das Leben ist nicht so, wie man es sich erträumt, erhofft und ersehnt. Das Leben am Rande der Gesellschaft ist brutal, kennt keine Gnade. Menschliches Dasein zeigt manchmal seine ganze grausame Fratze. Dasein, Lebensinhalt und Lebensgier zugleich sind auf shoppen und ficken fokussiert, gleichsam als schockierende Metapher für die Sucht nach Wohlstand und die Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit, körperlicher Nähe und etwas Glück.
Der britische Autor Marc Ravenhill hat die Lebenswelt einer Minderheit bewusst provozierend, sprachlich-schockierend und ihre Psyche auf ganz und gar verlorenem Posten als ein Seelendrama beschrieben und erreicht dabei ein unausweichliches Nachdenken der Zuschauer über die eigene Lebenswirklichkeit, über unerfüllte Wünsche, heimliche Sehnsüchte.
Der im Vorfeld der Inszenierung von Helmut Palitsch auf der Kleinen Bühne im Georg-Philipp-Telemann-Konservatorium in der Öffentlichkeit ausgetragene Streit um den Titel "Shoppen & Ficken", ob "Sudelstück", "Pornografie" oder nicht, zeigt - nimmt man die Inszenierung als Beweis -, dass Ravenhills vielgespieltes Stück (die Inszenierung von Thomas Ostermeier in der "Baracke" des Deutschen Theaters Berlin wurde 1998 als beste Inszenierung zum 33. Berliner Theatertreffen eingeladen) mitten ins Herz trifft und an den Nerven zerrt. Das, was in quälenden 100 Minuten von einem hervorragenden Schauspielerensemble des Theaters der Landeshauptstadt vorgeführt, nein bis an die Schmerz- und zuweilen auch Geschmacksgrenze erlebbar gemacht wird, ist überall und auch bei uns möglich. Und wenn, von der Regie bewusst als szenisches Element genutzt, der Zuschauerblick durch das Fensterpanorama ins nächtliche Magdeburg fällt, wird die Wirklichkeit hereingeholt, dringt das Ungeheuerliche an menschlichen Abgründen, an Verzweiflung, Brutalität und stummen Hilfeschreien nach draußen.
Robbi (hervorragend in seiner hilfesuchenden Naivität und Sehnsucht nach Liebe Heiko Pinkowski), Lulu (Sybilla Rasmussen) und Marc (in der introvertierten, sensiblen Darstellung Karl-Heinz Girnaus) leben im Wohlstandsmüll zwischen Videoclip und Mikrowelle. Ihr Sich-Einlassen mit dem "väterlichen" Brian, der Robbi und Lulu zum Vertrieb von Ecstasy animiert und sie gnadenlos zum "Anschaffen" von Geld fürs verdorbene Geschäft mit der künstlichen Droge zwingt, (Telefonsex als mühsame Geldbeschaffung) wird zum Fiasko für eine Beziehung, die neben shoppen und ficken immer auch noch ein Fünkchen an Menschlichkeit, beinahe Zartheit im Miteinander, von fast kindlicher Zuneigung hat. Christian Kleinert spielt diese komplizierte, wiedersprüchliche Figur des Brians, der beim Cello-Spiel seines Sohnes in Tränen ausbricht, in ihrer ganzen seelischen Brutalität und Perversion beeindruckend und überzeugend. Und auch der hochbegabte Thomas Fritz Jung, der 2000 mit dem Förderpreis des Theatervereins für Nachwuchskünstler ausgezeichnet wurde, als 14-jähriger Stricher Gary, der vom sexuellen Missbrauch durch seinen Stiefvater traumatisiert ist, macht in der Begegnung mit Marc deutlich, dass bei aller Verletzung von Seele und Körper ganz tief im Innern so etwas wie Hoffnung und Sehnsucht ist. Sein Leben, seine Erfahrungen, seine Enttäuschungen münden immer in geschäftsmäßigem Sex und in Begierde, weil da immer diese große, lähmende Angst vor der Enttäuschung ist. Bis zur blutigen, orgastischen Katastrophe ...
Dass die Schauspieler mit ganzem Einsatz ihrer Körper bis an die Grenze des Zumutbaren spielen, macht die Perversion ihrer Schicksale noch deutlicher! Der Schluss ist von, Marc Ravenhill so gewollt, unwirklich-moralisierend und deshalb auch "verlogen". Robbi, Marc und Lulu erkennen, vereint wieder auf der Couch sitzend, nach der ermahnenden "Predigt" von Brian: "Erst kommt das Geld, dann die Moral". Mikrowellen-Pamps und Glotze, shoppen und ficken bleiben Lebensinhalt.
Das Stück und die Inszenierung sind gerade jetzt wichtig, denn der Verantwortung für eine menschlichere Menschlichkeit untereinander und miteinander kann sich keiner entziehen. "Shoppen & Ficken" ist ein Stück voller bedrohlicher Gewalt, auch Gewalt in uns. "Wehret den Anfängen!"