Wie kommt Hamlet nach Verona?
Studententheater Der Schrank mit neuem Stück erfolgreich
Die freie Theaterszene Magdeburgs hat viele Gesichter. Ob Placebo, Theater 2. Fall, Durchschnitt, English Theater Group oder die Aufführungen der Theaterjugendclubs der Freien Kammerspiele und des Theaters der Landeshauptstadt - immer wieder überrascht das Off-Theater mit interessanten Stücken in originellen Inszenierungen an oft ausgefallenen Spielorten. Die studentische Theatergruppe Der Schrank, die von Prof. Dr. Gudrun Goes geleitet wird und aus Studierenden der Slavistik, Geschichte, Psychologie und Wirtschaftswissenschaft der Magdeburger Universität, darunter auch Studenten aus der Ukraine und Jugoslavien, besteht, bringt in diese "Theaterlandschaft" eine ganz neue Farbe ein.
Russische Stücke
Die Darsteller-Crew um die Prinzipalin aus dem Institut für Fremdsprachliche Philologien, die als ausgewiesene Expertin für russische Literatur gilt, setzt auf russische Stücke, auf avantgardistisches Theater. Mit dem absurden Drama "Weihnachten bei Ivanovs" von Aleksandr Vvendskij hatte die Theatergruppe auch ihren "seltsamen" Namen gefunden, denn Vvendskij trat mit seiner absurden Theaterkunst in den 30er Jahren immer mit einem "Schrank" als Markenzeichen auf. Im Januar 2001 brachten die Schauspielamateure ein Stück des "wilden" russischen Autors Vladimir Sorokin (in Magdeburg bekannt geworden durch die Inszenierung seines Stücks "Die Hochzeitsreise" in den Freien Kammerspielen) auf die Bühne im Kulturzentrum Volksbad Buckau.
Theaterspiel als Therapie
Sorokins Stück "Dysmorphomanie", in einer selbsterarbeiteten, gekürzten Fassung, ist das Psychogramm von Insassen einer psychiatrischen Anstalt, die aufgrund eines körperlichen Defekts für psychisch krank erklärt wurden. Dysmorphomanie ist die Diagnose einer Krankheit, die durch Theaterspiel therapiert werden soll. Shakespeares "Hamlet" und "Romeo und Julia" sollen, von den Insassen in wechselnden Rollen gespielt, heilen. Und dabei ist eine entscheidende Frage "Wie kommt Hamlet nach Verona?".
Was nach Boulevardtheater klingt, nach Jux und Tollerei ist aber viel mehr. Denn in den kreuz und quer aus beiden Stücken wie ein Peachworkmuster zusammengesetzten Szenen, dem Durcheinander der Personen - Hamlet liebt Julia, Horatio stirbt durch Tybalts Hand, die Amme ist in Helsingör und Verona gleichermaßen zu Hause und Julias Mutter ist die Königin Gertrude - spielen sich die von einer Ärztin für psychisch krank erklärten Insassen der Anstalt zunehmend selber, durchdringen sich Shakespearespiel und Anstaltsrealität bis zum finalen Showdown.
Sorokin, der im Westen durch Werke, wie "Die Schlange", "Herzen der Vier" und "Obelisk" bekannt wurde und als Experte für "Kannibalismus, Kot, Sadismus und Folter" gilt, lässt dabei auch tief in seelische Abgründe blicken ohne jedoch Abstriche an der komödiantischen Situation des klassischen Durcheinanders von Rollen und Personen zu machen.
Große Professionalität
Die acht Akteure agieren mit wenig Requisiten ausnahmslos mit großer Professionalität, überzeugen in den klassischen Texten durch bemerkenswerte rhetorische Fähigkeiten, spielen die Situationskomik und auch das Absurde der Situationen gut heraus. Mit "Sein oder Nichtsein - das sind gleich zwei Fragen!" läutet Hamlet das Finale ein, das fünfmal bei steter Verkürzung der Texte und Reduzierung der Handlungen wiederholt wird und sich bis ins Groteske steigert. Die "Mauern von Verona" erdrücken am Schluss die Personen wie die "Mauern" der Psychiatrie die Persönlichkeit der Insassen systematisch zerstört. Am Schluss ist nichts mehr übrig von Menschen und deren Schicksalen. Sorokins Anklage ist trotz der Absurdität des Stückes und seiner Metapher bitter und mahnend!
Großes Lob für Vladimir Banjac als Königsmörder Claudius, Christina Bracievskij als Julia, Irina Benkenstein als Königin, Christian Geiser als Hamlet, Christiane Hajek als temperamentvoll-auftrumpfende Amme, Anke Krieg als Tybalt, Irina Kwascha, die die Rolle der Ärztin auf Russisch spricht, und Friederike Wahl als Horatio.