Das "Bewegte Klassenzimmer" im Versuch
Verbesserung der Bewegungskompetenz von Schulkindern und sinnvolles Lernen in und mit Bewegung
Das Phänomen ist vielen Lehrerinnen und Lehrern bekannt: Kinder räkeln sich und kippeln auf den Stühlen, stehen auf, drehen sich zu den Mitschülern um oder fallen manchmal von den Stühlen. In einem bestimmten Maße ist eine vorhandene Bewegungsunruhe für das Lernen jedoch nicht förderlich. Aber zwischen "über Tische und Bänke gehen" und klassischem "Stillsitzunterricht" lässt sich das dynamische Sitzen und bewegte Lernen ansiedeln.
In einem Projekt des Fachgebietes Sportpädagogik/Sportdidaktik im Institut für Sportwissenschaft wird mit Unterstützung der Unfallkasse Sachsen-Anhalt das "Bewegte Klassenzimmer" erprobt. In zwei Versuchsklassen der Freien Schule Magdeburg erforscht die Projektgruppe unter meiner Leitung die Wirksamkeit eines beweglichen Mobiliars sowohl für eine Verbesserung der Bewegungskompetenz der Kinder als auch für ein sinnvolles Lernen in und mit Bewegung.
Kippeln erlaubt
Mit dem Anspruch, Bewegung in den Klassenraum zu bringen, wird genau der Teil von Schule einer Neukonzeption unterzogen, der im klassischen Konzept von Schule meist äußerst bewegungsarm gestaltet wird und von den Kindern ein hohes Maß an Körper- und Bewegungsdisziplin verlangt. Kinder verbringen einen nicht unerheblichen Teil des Tages sitzend im Klassenraum. Die Vorstellungen vom Lernen und Unterrichten sind nach wie vor weitgehend durch das frontale Belehren vor stillsitzenden Schülerinnen bestimmt - und dies, obwohl insbesondere für den Unterricht in der Grundschule seit vielen Jahren überzeugende Konzepte für selbstaktivierendes Lernen wie z.B. die Freie Arbeit, die Wochenplanarbeit, der Werkstattunterricht oder der Projektunterricht in einem rhythmisierten Tagesablauf vorliegen. Diese Konzepte gehören im Ansatz des mobilen Klassenzimmers zu den Arbeitsformen für einen bewegteren Unterricht, sie sind aber nicht Voraussetzung, sondern eine nach und nach mit zu realisierende Praxis. Das Konzept des "Bewegten Klassenzimmers" im Hinblick auf den Bewegungsaspekt hat eine Doppelfunktion: Zum einen ist Bewegung selbst das Ziel, indem es auf eine Verbesserung der Bewegungskompetenz ankommt und zum anderen ist Bewegung das Medium, indem über Bewegung die Auseinandersetzung mit Welt geschieht.
Die derzeitigen Klassenraumeinrichtungen lassen insbesondere durch die verwendeten Tische und Stühle kaum Bewegung zu, sie sind in erster Linie für den Stillsitzunterricht im Frontalbetrieb konstruiert und tragen insofern auch materialisiert zum Erhalt des klassischen Unterrichtsverständnisses bei. Im vorliegenden Projekt haben wir auf ein neuartiges Mobiliar des Sport- und Bewegungspädagogen Gerhard Landau zurückgegriffen. Die in den beiden Versuchsklassen durchgeführte Intervention erfolgte mittels dieses Mobiliars. Die Kinder sitzen und lernen durchweg mit einem Sitz- und Arbeits-Set in einem zunehmend veränderten Unterrichtskonzept, das Projekt- und Wochenplanarbeit, aber auch Rollenspiele, Versammlungen, Theaterarbeit mit einbezieht. Die durch das Mobiliar angeregte Bewegungsaktivität soll sich fördernd auf die Bewegungskompetenz wie auf das Lernen und Unterrichten auswirken. Die zentrale Annahme des Projektes geht davon aus, dass sich hierüber und unterstützt durch weitere Bewegungsaktivitäten im Schulalltag die Gesundheit durch Bewegungsförderung sowie der Unterricht durch körperlich-sinnliche und bewegungsbezogene Lernaktivitäten positiv beeinflussen lässt.
Das Magdeburger Projekt ist als Vergleichsgruppenuntersuchung in Kooperation mit zwei weiteren Grundschulen angelegt. In den Versuchsklassen wird mit dem neuen mobilen Mobiliar und einem bewegungsorientierten Unterrichtskonzept, verbunden mit weiteren Bewegungsangeboten im Klassenraum und im Schulalltag, gelernt und gelebt. Die Untersuchungen beinhalten einen motorischen Leistungstest, einen Haltungstest, ein Protokoll über tägliche Bewegungszeiten und Pausenaktivitäten, Beobachtungen des Sitz- und Lernverhaltens sowie eine Befragung der Kinder zum Wohlbefinden und zum Sitzmobiliar. Die Anfangsuntersuchungen zeigen, gemessen an den entsprechenden Normtabellen, ein ausreichendes bis befriedigendes motorisches Leistungsvermögen. Die Befragungen und Beobachtungen in den Versuchsklassen belegen, dass die Kinder die beweglichen Sitzmöbel vollständig in ihr Lern- und Arbeitsverhalten einbeziehen. Erst die weiteren Untersuchungen über die nächsten zwei bis drei Jahre lassen Aufschlüsse zur Wirksamkeit eines mobilen Klassenzimmers erwarten.
Das Konzept des mobilen Klassenzimmers ist im Zusammenhang weiterreichender Konzepte zur bewegten Schule zu reflektieren, die derzeit in der Bewegungs- und Sportpädagogik diskutiert werden. Aus dieser Diskussion ist auch der Modellversuch "Schule als Bewegungsraum" entstanden, der ebenfalls im Fachgebiet Sportpädagogik des Instituts für Sportwissenschaft unter meiner Leitung angesiedelt ist. Er wurde bis Ende 2000 vom Kultusministerium Sachsen-Anhalts finanziert.