"... spart mir nicht mit Menschen und Maschinen!"
"Faust, der Tragödie erster und zweiter Teil" am Theater der Landeshauptstadt
In der Theaterlandschaft Deutschlands gehört die Aufführung von Johann Wolfgang von Goethes Monumentalwerk "Faust, der Tragödie erster und zweiter Teil" zu den Seltenheiten. Was Peter Stein für die EXPO 2000 als 25-stündige, ungekürzte Aufführung praktizierte, erreichte trotz (gekürzter) TV-Fassung kaum das breite Publikum. Muss es auch nicht, solange Theater sich an den "Faust" heranwagen und den Mut zu sinnvollen Kürzungen und Streichungen mit Phantasie und Theaterzauber verbinden. "Faust I & II" in Magdeburg ist ein Publikumserfolg! Das Bekenntnis von Schauspieldirektor Helmut Palitzsch zu einem prallen, komödiantischem, auf alle Sinne und den Verstand gleichermaßen abzielendem Welttheater (gemäß "... und spart mir nicht mit Menschen und Maschinen!"), hat die Tragödie, vor allem den als "Lesetheater" verschrienen 2. Teil des Mammutwerkes, erlebbar gemacht.
Palitzsch und sein exzellentes Ensemble, mit Knut Müller als hinreißender Mephisto mit ausgefeilter Sprechkultur und diabolischem Charme sowie Johannes-Paul Kindler als Faust, nehmen die Zuschauer mit auf eine Zeitreise vom Mittelalter bis in die Gegenwart, die musikalisch von Joachim Kuipers bebildert wird. Dieses Konzept ist für beide Teile tragfähig, und es rechtfertigt vor allem für den (unspielbaren!) zweiten Teil der Dichtung die Kürzungen im Text, die über weite Strecken so subtil und überzeugend vorgenommen worden sind, dass nie die Zusammenhänge (wohl aber Figuren und Schauplätze!) verloren gehen.
Am Anfang, noch vor dem "Vorspiel auf dem Theater" und dem "Prolog im Himmel" versammelt sich eine muntere Schauspielerschar in Alltagskleidung und räsoniert über das bevorstehende Spiel. Am Ende des zweiten Teils nach der Grablegung des alten Faust und der durch Mephisto verlorenen Wette erleben wir die Schauspieler wieder, ganz in der Gegenwart, Satzfetzen und gestrichene Texte deklamierend und dabei die wunderbare Nike Fuhrmann. Sie, die zuvor u.a. als bezaubernde Helena (im Outfit einer Maria Callas) für erhabene Momente großer Schauspielkunst sorgte, spricht die letzten Worte der Dichtung fast lapidar: "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis ...".
In beiden Teilen der "Faust"-Inszenierung werden alle Elemente eines sinnlichen Theaterzaubers mit Wasser, Feuer, Nebel, Blitz, Donner, fliegenden Maschinen und sich hebenden und senkenden Schauplätzen bemüht. Fast schon ein bisschen viel an Bewegung, ein bisschen viel an szenischer "Hektik". Manchmal fehlt es dem Zuschauer an Ruhe zum Hinhören, Nachdenken und Fühlen, was hier in einer rasanten Bilderfolge abläuft.
Während im ersten Teil nur neun Schauspieler in unzählige Rollen "schlüpfen", werden im zweiten Teil gleich 30 Schauspieler - einschließlich einer hervorragend agierenden Statisterie - aufgeboten, um den argen Weg der Erkenntnis des Faust, um die Intrigen und höllischen Machenschaften des Mephisto in seinen zahlreichen Verwandlungen als Narr, Phorkyras oder als gnadenlos-herzloser Aufseher und Manager beim Krieg, Landgewinn und Polderbau erlebbar zu machen. Der junge Thomas Fritz Jung brilliert nicht nur als alberner, das Papiergeld um sich werfender Kaiser, sondern auch als halsbrecherischer Euphorion - eine schauspielerische Glanzleistung, wie die von Peter Wittig als Thales. Beeindruckend der Schluss mit einem vor allem hier überzeugenden Johannes-Paul Kindler als alter, sehr selbstgefälliger Faust mit seiner Vision vom "freien Volk auf freiem Grund".
"Faust" in Magdeburg ist für alle Zuschauer, die nicht mit dem Textbuch auf den Knien Vers für Vers verfolgen und an jedem Reim "haften", ein Theatererlebnis, eine "Entdeckungsreise". Mir fällt im kritischen Rückblick auf die beiden Theaterabende nicht von ungefähr das Brecht-Wort ein: "So geht es, aber anders geht es auch!"