Straßenbahn gegen die Stadt

07.06.2000 -  

Provozieren und die Diskussion anregen

Wieso konnte sie uns nicht hören? Die 37-Prozent-Stadt und die automatisierte Indifferenz. "Straßenbahn gegen die Stadt?" fragte ein Passant, der sichtlich eingeschüchtert, durch die von uns geschulterten Megaphone, seine Augen auf den Text heftete. Doch bevor er noch etwas hinzufügen konnte, waren wir schon wieder verschwunden. In einer Straßenbahn, die uns durch die Stadt trug.

Dabei handelte es sich um die Abschlußaktion eines Projektes zwischen dem Institut für Fremdsprachliche Philologien, Bereich Anglistik, - genauer beschrieben, einem Kurs mit dem Titel "Contemporary poetry: Emergency kit" unter der Dozentur von Dr. Jürgen Martini und Kate Sturrock - und dem "Theater an der Angel". Jenes hatte mit freundlicher Unterstützung der Magdeburger Verkehrsbetriebe Ende April 2001 das bereits zweite Tramart-Festival organisiert.

Den Mitgliedern des Kurses war nun zweierlei zugetraut worden. Erstens der Mut, englische Gedichte und ihre Übersetzung in regulären Linienbahnen, dem oft erstaunten, meist indifferenten, manchmal zustimmend nickenden, selten Applaus spendenden und vereinzelt auch ablehnenden Publikum zum Ohr zu gereichen. Zweitens, dass sie Werbung für das Festival machen sollten. Das große Finale bildete, die bereits genannte Aktion "Straßenbahn gegen die Stadt". Dabei ging es nicht darum, die beiden eng miteinander verflochtenen, öffentlichen Erscheinungen gegeneinander auszuspielen, sondern das Transportmittel als Bühne für ein intimes Zwiegespräch zwischen Einwohner und umgebender Wirklichkeit zu nutzen.

Janusgedicht

Dazu war ein Text erstellt worden, der zwei Seiten und Gedankenpaare eines Janusgesichtes spiegeln sollte. Janus Primo als wahrnehmender und ungefilterter Gedankenfluß, der anfänglich von einer objektbezogenen Sachlichkeit eingefärbt ist und dann zunehmend einen Vergleich zwischen der Stadt und einer Frau aufwirft. Janus Vero wiederum ist dann eine Reflexion der emotionalen Seite einer Beziehung zu einer Stadt, die ihren winterhaften Charme auch im Sommer nicht ablegen oder aufgeben darf. Warum, das verraten die letzten Zeilen in einem, die erste Seite entlarvenden, Gedankenkonstrukt.

Diese beiden Texte wurden von uns, Dr. Martini und mir, im ständigen Wechsel, Satz für Satz, durch Megaphone vorgetragen. Dabei wurde die von uns im Straßenbahndepot Sudenburg begonnene Fahrt von hilfreichen Freunden (Beate, Chritiane, Franziska, Helmi, Lydia, Philip, Tibor) unterstützt, die den von uns gesprochenen Text unter den Passanten verteilten. Auf unserem Weg hielten wir am Hasselbachplatz, Hauptbahnhof, Alten Markt und Uniplatz. Sobald die Bahn stoppte, verließen wir sie und begannen mit dem Vortrag.

Wir wollten nicht polarisieren, statt dessen müssen wir noch einmal darauf hinweisen, dass es ein, auf der äußersten Seite des Subjektes liegendes Verständigen mit der Stadt, aber auch ihrer Bewohner war. Doch genau dieser Teil Magdeburgs blieb stumm. Wir bekamen weder Ablehnung noch Zuspruch. Pure und klare Ignoration war das, worauf wir stießen. Wenn nicht sogar die absolute Höchststrafe, das Verschweigen. Denn dem Autor des zu unserer Aktion verfaßten Artikels in der Magdeburger Volksstimme war nicht einmal aufgefallen, daß wir da gewesen waren. Er berichtete, daß ein britischer Dichter an jenem Samstag Gedichte vorgetragen hatte.

Abschließend sei darauf hingeweisen, daß Reaktionen und Meinungsentfaltungen immer willkommen sind.

Straßenbahn gegen die Stadt

(aus den Seiten eines lebenden Berichts)

Janus Primo

Ich hasse meine Heimatstadt.
Wo man hin spuckt, zerbricht das Sekret am betonierten Stein. In ihr stirbt man langsamer als an anderen Orten. Wie Geschwüre zerbeulen Kreisverkehre ihren Körper. Schweiß und Eiter sind der Efeu an Häusern. Samenfäden schwimmen auf der Elbe an ihr vorbei. Denn sie kann nicht befruchtet werden. Sie ist impotent und vertrocknet!
Nichts kann in ihr wachsen, ihr Schoß ist die Eiswüste. Doch wo kann das Sterben so schön sein.

Janus Vero

Warum kann sie mich nicht hören. Wieso muß ich in ihr frieren. Dieses Gewächs aus Darm. Noch einmal wage ich den Tritt in sie. Tief in ihren Schoß soll der Schmerz wandern. Mich zu verlieren wird ihr nicht erlebbar sein. Sie hatte mich schon vor meiner Geburt vergessen. Zerrissen sind alle Erinnerungen an die Tausenden von Fehlgeburten. Eifersucht will die Häßlichkeit des Geliebten und gelebte Liebe will die beneidenden Blicke der Anderen.
Bin ich eifersüchtig, weil sie so schön ist?

Karsten Steinmetz, 1976
Aus Gesammelte Schriften, Bd. IV, Mitteldeutschland

Letzte Änderung: 07.06.2000 - Ansprechpartner: Webmaster