Eine Chance oder ein Risiko?
Öffentliches Diskussionsforum zu den Lebenswissenschaften
Die Lebenswissenschaften revolutionieren das Bild vom Menschen und von der Natur, und sie gewinnen zunehmend Einfluss auf die Lebenspraxis. Weit überzeugender als alle Philosophie bisher vermocht hat, ist es diesem Wissenschaftsgebiet gelungen, die Einheit der Welt zu belegen. Wir wissen nun, dass die Naturgesetze in vollem Umfang gelten, vom Urknall oder der berühmten Sekunde danach bis hin zum Menschen. Die Genomforschung hat den letztgültigen Beweis erbracht, dass die Lebewesen, das Bakterium, der Kirschbaum oder der Mensch, im wesentlichen dem selben Bau- und Funktionsplan folgen. Das Lebensbuch, das Genom, ist bei Mensch und Fliege zu 75, bei Mensch und Schimpanse zu 99 Prozent identisch. Was statt dessen ins Auge springt, sind die Unterschiede. Und tatsächlich liegt uns der "kleine Rest", der uns Menschen von den anderen Lebewesen unterscheidet, besonders am Herzen.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat das Jahr 2001 zum "Jahr der Lebenswissenschaften" erklärt. Wohl kein anderes Forschungsfeld bewegt die Menschen emotional und intellektuell derzeit so sehr wie die Lebenswissenschaften. Der Diskussions- und Informationsbedarf nicht nur der Wissenschaftler, sondern auch der Bürger ist hoch. Eine Möglichkeit zum Meinungsaustausch war das öffentliche Diskussionsforum "Life Sciences Live", das im vergangenen Sommersemester der Prorektor für Forschung, Prof. Dr. Gerald Wolf, organisiert hatte. Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fakultäten diskutierten mit interessierten Bürgern über Humangenomforschung, Biotechnologie, Gehirn und Geist, künstliche Intelligenz und Ethik.
"Die Wissenschaft durchschaubarer zu machen, und die Akzeptanz für die Forschung im öffentlichen Bewusstsein zu erhöhen" hatte Moderator Dr. Winfried Bettecken, MDR-Hörfunkchef im Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt, der Veranstaltung mit auf den Weg gegeben. "In vielen Dingen steht die Forschung vor einer Tür und weiss nicht, was sie dahinter erwartet: eine Chance oder ein Risiko."
Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms sei ein großer Schritt in der Humangenetik gewesen, bekräftigte der Genetiker Prof. Dr. Peter F. Wieacker. Von diesen neuen Erkenntnissen erwarten Patienten eine bessere Diagnostik, eine exaktere Vorhersage der Wahrscheinlichkeit für genetisch bedingte Erkrankungen und das genauere Erkennen von Erkrankungsmechanismen. Sie hegen eben diese Hoffnungen, aber haben auch Ängste. Professor Wieacker warnte vor der zunehmenden Berechnung und Planung des menschlichen Lebens und der Gefahr von manipulativen Eingriffen in die menschliche Natur beispielsweise durch die Präimplantationsdiagnostik.
Nichtzuletzt hier ist ein Ansatzpunkt für die ethische Beurteilung der Lebenswissenschaften. Georg Lohmann, Professor für praktische Philosophie, merkte an, dass dies unter moralischen wie rechtlichen Gesichtspunkten geschehen müsse und auch kulturelle sowie religiöse Aspekte einfließen sollten. Die Philosophen müssten sich zu einer inhaltlichen Stellungnahme durchringen. Jedoch dürfe nicht erwartet werden, die Ethik übernehme die Funktion einer Warnpfeife vor dem Zug Wissenschaft, um rechtzeitig beiseite springen zu können oder um ihn gar aufzuhalten.
Seele ist nicht zu klonen
"Wenn der Nutzen für den Menschen unmittelbar zu erkennen ist, besteht für die neuen Technologien große Akzeptanz in der Öffentlichkeit", stellte Udo Reichel, Professor für Bioprozesstechnik, fest. Anders hingegen, wenn die angewandte Genforschung das Labor verlasse, genetisch veränderte Pflanzen und Tiere in die Umwelt oder gar Nahrungskette des Menschen gelangen.
Auch menschliche Zellen lassen sich verändern, lassen sich manipulieren, lassen sich klonen. Nicht geklont werden hingegen kann das "Ich". Es sei der ganz private Zugang des Individuums zur Hirnmasse durch das eigene Erleben, unterstrich Prof. Dr. Gerald Wolf, Molekularbiologe. Auch wenn über die molekulare Architektur der Nervenzelle bereits viel bekannt ist, so könne doch noch lange nicht gesagt werden, wie Geist, wie Bewusstsein entstehe. Einer embryonalen Zellmasse, die sich lediglich durch die Potenz auszeichne, einmal ein Mensch zu werden, billigte der Biologe nicht die Eigenschaft zu, mit Hirnfähigkeiten ausgestattet zu sein, die, als "Seele" bezeichnet, die Voraussetzung einer wie auch immer gearteten Persönlichkeit sind.
Menschliche Fähigkeiten zu simulieren und sie auf technische Abläufe zu übertragen, nutzen heute Ingenieurwissenschaften ebenso wie die Informatik. Computer, die diese ausführen, seien im Zeitalter der Informations- und Kommunikationstechnologien unersetzbar geworden, bekräftigte der Informatiker Professor Rolf Kruse. Selbst aber können sie Menschen nicht ersetzen, da es ihnen nie so komplex gelingen wird, ungenaue Informationen in "gesunden Menschenverstand" umzusetzen, wie dem Menschen selbst.
Mit auf den Heimweg nahmen die Diskussionsteilnehmer vielleicht mehr Fragen, als sie mit in die Veranstaltung brachten. Dennoch war das Zusammentreffen der verschiedensten Ansichten aus unterschiedlichsten Wissenschaftsgebieten besonders befruchtend für die weitere öffentliche Diskussion, zu der die Wissenschaftler die Bürger aufriefen. Sie sollten sich informieren, sollten diskutieren, zu einer Meinung finden und diese an die Politik herantragen, wann immer sich ihnen die Möglichkeit biete. Denn die Politiker dürfen die in naher Zukunft zu treffenden Entscheidungen, beispielsweise über den Embyonenschutz, die Stammzellenforschung, zu Biotechnologien oder Präimplantationsdiagnostik, nicht ohne die Bürger treffen.