TheaterLeben als Konfliktbewältigung

27.11.2001 -  

Freie Kammerspiele mit furiosem "Start"

Die Künstlercrew der Freien Kammerspiele unter Intendant Tobias Wellemeyer setzte mit ihren neuen Inszenierungen ein deutliches künstlerisches Signal für Theater, das an den Nerven "zerrt", unter die Haut geht, Herz und Gedanken gleichermaßen erfasst. Theater als Provokation im besten Sinne des Wortes, als Konfliktbewältigung und (Über-)Lebenshilfe. Fast porträthaft steht der einzelne Mensch im Mittelpunkt. Es sind aufregende, manchmal schockierende, ungemein spannende, emotional berührende und zur Diskussion anregende Nahaufnahmen von Menschenschicksalen, von Freude, Leid, Trauer und Hoffnung. Es geht in den Stücken der internationalen Dramatik um die Bewältigung von Ängsten und das Hineintauchen in Welten von Träumen und Sehnsüchten. Ein Theater der Leidenschaften und großen Emotionen, der lauten und leisen Töne zwischen Herzflimmern und Betroffenheit. Für Fans eines modernen Theaters sind die neuen Stücke ein absolutes Muss. Das Gemeinsame aller Inszenierungen ist nicht nur, wie hier junge Regisseure "handwerklich" filigran inszeniertes Theater auf die Bühnen bringen und dabei immer neue Spielräume erfinden. Das Aufregende sind vor allem die schauspielerischen Leistungen des gesamten Ensembles, ein auffallend professioneller Umgang mit Sprache, ein ungemein wirkungsvolles Einbringen differenzierter gestischer und mimischer Mittel, das die Figuren ganz realitätsnah werden lässt.

norway.today von Igor Bauersima, ein Stück über die Verzweiflung und verzweifelte Liebe zweier junger Menschen am Rande der Selbstaufgabe, sprungbereit in den gemeinsamen Suizid, ist so ein Beispiel für spannendes Theater, das 16-jährige Gymnasiasten an ihre Sitze fesselt und wo Theater zu einer aufregenden Reise ins Ich wird. Dem Regisseur Gerald Gluth gelingt mit einem raffinierten "Computer-Internet"-Bühnenbilddesign ein Theaterabend, der alles aufzeigt, was sich zwischen "Himmel und Erde", zwischen grenzenloser Verzweiflung und aufkeimender Liebe, zwischen Scheu und sexueller Neugier abspielen kann. Und er trifft vor allem mit seinen beiden Darstellern Anett Sawallisch und Wolfgang Vogler genau den Nerv des Publikums.

Geschundene Seele

Ganz auf die Individualität des Darstellers Thomas Hamm ausgerichtet und dessen schauspielerische Qualitäten ganz und gar "ausreizend", gelingt Mathias Thieme in Jean Marie Frins P'tit Albert ein bedrückendes Psychogramm einer geschundenen Seele, eines Irren mit hellwachen Momenten. Im Heizungskeller der Freien Kammerspiele erleben die Zuschauer als "Irrenärzte" in weißen Kitteln die Seelenqualen, die Rituale aus Selbstvorwürfen und Sehnsüchten nach einer "kleinen" Freiheit. Der Zuschauer wird hart gefordert, ist sich in der Interpretation des erlebten selbst überantwortet.

Die Mörder sind unter uns

Peter Lüder inszenierte das inzwischen auf deutschsprachigen Bühnen zum Kult-Stück avancierte bash.stücke der letzten tage von Neil LaBute. Stück und Inszenierung in das Ambiente einer Nobel-Bar mit weißen Ledermöbeln gestellt, in das unvermittelt und hart die Bilderrealität des gewöhnlichen (Magdeburger) Alltags hineinprojiziert wird, thematisieren auf ungewöhnlich eindringliche Weise die These "Die Mörder sind unter uns". Drei Mörder, die aus dem Publikum heraus ihre Monologe fast im Plauderton beginnen und sich bis zu Psychose und Mordrausch steigern, lassen nicht nur in seelische Abgründe blicken. Sie offenbahren auf schockierende Weise die Morbidität einer Gesellschaft, in der wir mittendrin sind. Und dieses "mittendrin sein" ist auch der Vorzug dieser bemerkenswerten Regiearbeit und der überragenden schauspielerischen Leistungen von Ulrike Haase, Frank Auerbach und Astrid Weigel.

Spiel der Täuschungen

Israel Horovitz, Autor des Kultfilms "Blutige Erdbeeren" schrieb das Stück Flinke Fäuste, das im New Yorker Boxer-Milieu spielt und doch überall spielen könnte. Es ist ein rasantes Spiel um zwei Leute, die sich aus Lethargie und Hoffnungslosigkeit an den eigenen Haaren herausziehen wollen. Es ist die wundersame Verwandlung eines Menschen aus der Depression in einen "strahlenden" Champion. Es ist auch ein Spiel der Täuschungen, der letzten Hoffnungen und der gnadenlosen (Box-)Show, die den Menschen mißachtet. Schauspielerische Glanzleitungen in einer filigran gezeichneten Milieustudie von Rainer Etzenberg, Uwe Steinbuch und Mirko Zschocke.

Verschrobener Liederabend

Die Männercrew des 19-köpfigen Kammerspiel-Schauspielensembles zeigt mit dem herrlich verschrobenen, nostalgischen Liederabend unsterblich (Regie: Carsten Andörfer) wie unsterblich die Liebe der Fans zu ihren Kickern und den einstigen Erfolgen der Blau-Weißen des 1. FC Magdeburg ist. Wer sich köstlich amüsieren, einmal richtig "ablachen" und ab und an auch nachdenklich über die "schönste Nebensache der Welt" räsonieren will - nichts wie hin zum Liederabend, bei dem die "Herren" auch für die weiblichen Fans so mancherlei Ein- und Zweideutigkeiten parat haben.

Schauspieltheater in Magdeburg hat mit dem furiosen Start der Freien Kammerspiele wieder einen klangvollen Namen!

Letzte Änderung: 27.11.2001 - Ansprechpartner: Webmaster