Kopernikus, Darwin, Singer?

08.01.2002 -  

Lesermeinung zur Guericke-Vorlesung von Wolf Singer

Meiner Erinnerung nach sind die Schwerpunkte der Otto-von-Guericke-Vorlesung des Neurobiologen Professor Wolf Singer vom 6. November 2001 in den Veröffentlichungen von Prof. Michael Pauen in Volksstimme und Uni-Report treffend dargestellt. In dem von mir miterlebten Teil der Diskussion sind Gegenpositionen nur in sehr höflicher Form angedeutet worden. Ohne möglichen fundierteren Äußerungen der jeweiligen Fachleute vorgreifen zu wollen, möchte ich deshalb hier meinen Unmut über die philosophischen und ethischen Schlußfolgerungen zum Ausdruck bringen, die der Gast aus den jüngsten Forschungsergebnissen der Hirnforschung zog.

Vor allem sprach er dem Menschen den freien Willen ab. Zuvor unterstellte er bei seinen Zuhörern eine intuitive Vorstellung eines "inneren Auges", welches mit den Methoden der Hirnforschung feststellbar sein müßte. Ich hatte eine solche Vorstellung nicht und möchte sie auch für die anderen Zuhörer bezweifeln. Den freien Willen zu bestreiten, weil die Hirnforscher kein solches inneres Auge diagnostizieren können, erinnert fatal an die unsinnige Schlußfolgerung, Gott existiere nicht, weil die sowjetischen Kosmonauten ihn bei ihren Weltraumflügen nicht fanden. Offenbar mit Genugtuung verglich der Vortragende die aus seiner Behauptung folgende Kränkung des Menschen mit der Kopernikanischen Wende und mit den Folgen der Evolutionstheorie für das Selbstverständnis des Menschen.

Von "kulturellen Konstrukten"

Für die Beurteilung der Behauptungen Singers ist es nun aber noch von großer Bedeutung, wie man den freien Willen definiert. Unterstellt man nur, daß auch der Wille strenger Kausalität unterliegt, so ist das wenig spektakulär. Professor Singer schlußfolgerte jedoch, daß auch Begriffe wie Schuld und Verantwortung, Sühne und Strafe lediglich "kulturelle Konstrukte" ohne Wirklichkeit seien. Dann träfe das aber auch für weitere Begriffe wie Gewissen, gut und böse etc. zu, und die Resultate unseres Denkens wären lediglich Epiphänomene materieller Prozesse, so daß auch die objektive Wahrheit von Aussagen infrage gestellt wird. Ihre grundsätzliche Bestreitung spricht sich jedoch gemäß einem berühmten Paradoxon selbst den Wahrheitsanspruch ab. Hinsichtlich der Thesen Professor Singers wären dann auch nur die synchron getakteten Prozesse in seinem Kopf real existent.

Die Vorlesung ließ jeden tieferen Bezug zu der bereits tausende Jahre währenden geistigen Auseinandersetzung mit solchen Fragen vermissen. So hat die Frage des freien Willens unter anderem in der gesamten Geschichte des Abendlandes eine sehr wichtige Rolle gespielt. Vom Christentum wurde sie als eine seiner wesentlichen Grundpositionen von Anfang an bejaht. Die katholische Kirche vertritt diese Position bis heute im Unterschied zu bestimmten protestantischen Strömungen, vor allem im Calvinismus. Für die geistige Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche genügte Professor Singer in seinem Vortrag allerdings eine den Realitäten hohnsprechende Randbemerkung über die Haltung des Vatikans zur Evolutionstheorie.

Geistig näher als eine religiös begründete Vorherbestimmung wie bei Calvin steht uns heute eine Bestreitung des freien Willens aus der bereits erwähnten "universellen strengen Kausalität", die z.B. der große Physiker Max Planck sowohl seinen physikalischen als auch seinen philosophischen Überlegungen zugrunde legte. Hier liegt das eigentliche Problem, und es kann meines Erachtens durch spezielle Erkenntnisse der Hirnforschung, wie Prof. Singer unterstellte, nicht noch verschärft werden.

Um so interessanter ist, daß Planck in seinem berühmten Vortrag Vom Wesen der Willensfreiheit, den ein Direktor an einem Max-Planck-Institut eigentlich kennen sollte, den freien Willen trotzdem mit zwingenden Argumenten verteidigte. Es geht dabei um die Frage, inwieweit wir imstande sind, "eine eigene Willenshandlung in ihrer kausalen Bedingtheit zu begreifen. Offenbar gibt es dafür keine andere Möglichkeit, als daß wir unser Ich in zwei Teile zu spalten suchen: das erkennende Ich und das wollende Ich, und dem ersten die Rolle des Beobachters, dem zweiten die des Beobachteten zuweisen". Für in der Zukunft liegende Willenshandlungen kann dann "keine Rede davon sein, daß der Beobachter sich jeder kausalen Einwirkung auf den Beobachteten enthält." In dieser prinzipiellen Unmöglichkeit liegt nach Planck wohl ein Schlüssel für die Existenz der Willensfreiheit für noch vor uns liegende Handlungen. Das Resultat seiner Überlegungen faßte er in dem Vortrag Determinismus oder Indeterminismus mit folgenden Worten zusammen: "Vom objektiv wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist der menschliche Wille determiniert, dagegen vom subjektiven Standpunkt aus betrachtet ist der menschliche Wille frei. In beiden Sätzen steckt weder eine Unklarheit noch ein begrifflicher Widerspruch. Sie stehen sich vollkommen koordiniert gegenüber; man darf keinen von ihnen geringer bewerten als den anderen." In dem erstgenannten Vortrag wandte sich Planck dann folgerichtig der Frage der Ethik zu. Nachdem er die Unmöglichkeit einer restlosen Aufklärung darüber betonte, "wie wir selber in einer bestimmten Lebenslage handeln werden", schlußfolgerte er: "Daher tritt hier zu der Wissenschaft als notwendige Ergänzung der von ihr gelassenen Lücke die Ethik."

Singer argumentierte dagegen so, daß man bei einem Verbrecher (man denke z. B. an Himmler!) nun nur noch sagen könne, der arme Kerl befände sich leider ohne Schuld am Rande einer Verteilungsfunktion. Singers Thesen sind, sofern sie denn ernst genommen werden, gemeingefährlich. Wer den Begriff Verantwortung als inhaltsleer bezeichnet, und das nicht nur in akademischen Vorträgen, handelt, besonders auch gegenüber unserer Jugend, verantwortungslos. Vielleicht hatte Planck solche Dinge im Auge, als er in seinem Vortrag Religion und Naturwissenschaft formulierte: "Unter diesen Umständen ist es nicht zu verwundern, wenn die Gottlosenbewegung, ..., sich mit Eifer die fortschreitende naturwissenschaftliche Erkenntnis zunutze macht und im angeblichen Bunde mit ihr in immer schnellerem Tempo ihre zersetzende Wirkung über die Völker der Erde in allen ihren Schichten vorantreibt."

Die Reichweite der Methoden

Professor Singer sollte seine wissenschaftliche Reputation nicht mißbrauchen, sondern anerkennen, daß die Reichweite der Methoden auch seines Fachgebietes beschränkt ist, daß es Fragen gibt, die sich dem Zugriff dieser Methoden prinzipiell entziehen. Einige dieser Fragen unterliegen einer Vorentscheidung des Menschen, wobei es mehrere mit den naturwissenschaftlichen Beobachtungen kompatible Möglichkeiten gibt. Wenn Singer die Vorentscheidung eines radikalen materialistischen Reduktionismus trifft und für andere Bereiche der Wirklichkeit absolut "unmusikalisch" zu sein scheint, dann ist das seine Sache. Wer aber Ungeheuerlichkeiten verkündet, dem muß widersprochen werden.

Hier kann ich mich nur dem anschließen, was der Philosophie-Professor Klaus Fischer aus Trier im November-Heft der Zeitschrift Forschung und Lehre schreibt: "Vielleicht wären die Chancen zur Aufklärung des neben dem Problem der Kosmogonie vielleicht größten Rätsels der Wissenschaft besser, wenn auch die Hirnforschung bereit wäre, von den Wissenschaften des Geistes zu lernen und Evidenz, die ihren Dogmen widerspricht, ernst zu nehmen. Vielleicht bleibt uns am Ende auch nur die Demut vor dem Unbegreiflichen." In diesem Sinne bin ich dem Magdeburger Neurowissenschaftler Professor Hans-Jochen Heinze dankbar für seine im Uni-Report vom Oktober 2001 wiedergegebenen Worte: "Und so eine Äquivalenz, gewissermaßen mit verschwimmenden Rändern, würde das geistige Leben eben nicht auf einen neuralen Reflex reduzieren, sie würde vielmehr die innere Struktur und Eigenständigkeit der geistigen Welt, ihre großartige Schönheit, nur auf eine bestimmte Weise widerspiegeln."

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