Biologische Evolution ist kein Werte-generierender Prozess

28.02.2002 -  

Lesermeinung

Antwort auf Prof. Dr. Lutz Sperlings Lesermeinung "Kopernikus, Darwin, Singer?" (Uni-Report, Januar-Ausgabe 2002) zur Otto-von-Guericke-Vorlesung von Prof. Dr. Wolf Singer (Uni-Report, Dezember-Ausgabe 2001)

Natur und Geist stehen sich in ihrer kategorialen Verschiedenheit bislang recht schroff gegenüber. Mehr und mehr wird in der Hirnforschung der Mittler gesehen, durch den sich das vielleicht gewaltigste Projekt des menschlichen Intellekts realisieren lässt, die "zwei großen Kulturen" (C. P. Snow, 1959), die Natur- und die Geisteswissenschaften, zu vereinen. Ausgangspunkt ist die Grundüberzeugung von der Einheit der Welt. Zu dieser einheitlichen Welt gehört auch und ganz wesentlich unser Gehirn, und das mit allen seinen Leistungen, der Produktion von Geist, den seelischen Potenzen und seiner Kulturfähigkeit.

Sorge um Geheimnisse der Seele

Das Unbehagen, wie es in der Replik von Lutz Sperling gegenüber den Kernpunkten der Vorlesung Wolf Singers zum Ausdruck kommt, ist begreiflich. Missbehagen wird so oder ähnlich auch von vielen anderen empfunden. Dahinter stehen die Sorge, dass die Geheimnisse der menschlichen Seele dem faustischen Eifer ganz unnötigerweise preisgegeben werden, und die Angst, dass bei der naturwissenschaftlichen Seziererei schließlich alles, was uns heilig ist und auf immer bleiben sollte, als "Hirnmechanismen" biologisch interpretiert und damit entwertet wird. Und in der Tat, naturwissenschaftliche Erkenntnisentwicklung führte und führt nahezu zwangsläufig zur Säkularisierung all der Sachverhalte und Erscheinungen, die bisher allein Gegenstand von Religion oder von philosophischen Erörterungen waren, oder die die verschiedenartigsten persönlichen Vorstellungen, Hoffnungen, Wünsche begleiten.

Zumeist geht der Verweltlichungsprozess in kleinen Schritten vor sich, hin und wieder aber mit regelrechten "Wenden". Die kopernikanische Wende machte Schluss mit der damaligen Vorstellung, Mittelpunkt der Welt zu sein, und die darwinsche erklärte den Schöpfungsprozess als Ergebnis einer - wie wir heute sagen - Selbstoptimierung biologischer Systeme. Solcherart Revolutionen im Denken, im Welt- und Selbstbild zogen stets einen Protestschweif nach sich. Der Darwinismus ist auch heute noch nicht allgemein akzeptiert, obwohl das Evolutionsprinzip mittlerweile nicht weniger gut gesichert ist als das Hebelgesetz in der Physik. Das Bild, das wir von uns selbst haben, verlangt nach einer höheren Abkunft. Die Identifizierung mit der äffischen Verwandtschaft widerstrebt uns, ganz besonders mit dem Blick auf unsere geistigen Qualitäten.

Selbsterklärung des Gehirns

Nun deutet sich eine weitere 2kopernikanische Wende" an - die der Selbsterklärung unseres Gehirns und des von ihm generierten Geistes -, indem der Forschungsehrgeiz der Neurowissenschaftler sich zunehmend auf Bereiche ausdehnt, die bislang praktisch unangefochtene Domänen der Geisteswissenschaften waren. Flankierend dazu säkularisiert die Soziobiologie unser Selbstbild und lässt uns unsere Gesellschafts- und Kulturfähigkeit als Ergebnis eines natürlichen Werdens begreifen. Grund genug, eine Entwicklung hin zu einem normativen Biologismus zu befürchten. "Der Unmut über die philosophischen und ethischen Schlussfolgerungen", den Lutz Sperling mit Bezug auf Singers Vortrag empfindet, mag darauf zurückgehen. Ich glaube aber versichern zu können, dass alle ernstzunehmenden Vertreter der modernen Biologie zumindest in dieser einen Hinsicht konform sind: Die biologische Evolution ist grundsätzlich kein Werte-generierender Prozess, und sie verfolgt schon gar nicht ein ethisches Prinzip. Ihre Resultate taugen mithin auch nicht als sittliche Norm.

Der Bereich des Faktischen in der belebten Natur kann folglich nicht einfach als "gut", als menschlich wünschenswert, übersetzt werden. Wenn zum Beispiel Aggressivität tatsächlich, ja ganz fraglos zu unserer Natur gehört, dann ist diese, das "Böse in uns", nicht einfach als naturgegeben hinzunehmen oder gar zu entschuldigen. Vielmehr sind ethische Normen zu entwickeln und zu kultivieren, die verhindern, dass aus einer solchen Anlage Schaden erwächst. Auch die Idee des Sozialdarwinismus entspringt einer missverstandenen Biologie, ist unwissenschaftlicher normativer Biologismus.

Gehirn keine Modelliermasse

Um einer verfehlten Biologisierung des Menschen aus dem Wege zu gehen, wird leider oft genug versucht, die Biologie des Menschen zu beugen: Unsere Natur, unser Gehirn, wird als bloßes Behältnis angesehen, in dem sich Geist, Seele und Kultur "irgendwie" abspielen und sich dabei im sozialen Gefüge arrangieren. Ebenso falsch ist in diesem Zusammenhang die Vorstellung, das Gehirn sei eine Art Modelliermasse, die durch die Umwelt, namentlich die soziale, beliebig formbar ist. Hirnfähigkeiten - so eben auch geistige, seelische - sind biologisch weit stärker disponiert, als dies gemeinhin für möglich gehalten wird. Ein weitverbreiteter und von "Soziologisten" oder "Kulturisten" hingebungsvoll gepflegter Irrtum ist, das Neugeborene zeige uns, was (im Sinne von genetisch determiniert) angeboren ist und dass alles, was danach kommt, allein Produkt des Lernens in und an der Umwelt sei. Und ebenso irrtümlich wird angenommen, dass individualgenetische Verhaltens- und Leistungsdispositionen (Begabungen zum Beispiel) keine Rolle spielten.

Allerdings kann heute trotz aller Erkenntnisfortschritte in der Hirnforschung kein Neurowissenschaftler präzise erklären, wie die höheren Hirnleistungen, Bewusstsein etwa oder eine bestimmte seelische Qualität, generiert werden. Gerade mal das ungefähre "Wo?" von Hauptaktivitäten zu bestimmen, erfährt sie zunehmend Präzision. Ansonsten sind die Dimensionen solcher Fragestellung derzeit viel zu immens.

Die Größe der Naturwissenschaften aber erwuchs, so der Zellbiologe und Naturphilosoph Peter Sitte, aus der Kleinheit ihrer konkreten Forschungsziele. Dies gilt genauso für die Hirnforschung. Sie ist heute, wie angedeutet, einfach noch nicht kompetent genug, zum Beispiel eben die Frage zu beantworten: "Gibt es einen freien Willen?". Wolf Singer hatte in seinem Vortrag, anders als von Lutz Sperling behauptet, auch nicht wirklich bestritten, dass es einen freien Willen gäbe. Zweifel allerdings hatte er angemeldet, und Zweifel sind legitim, ja bekanntlich notwendig für die Wissenschaft. Andernfalls endete die Wissenschaft im Dogmatismus. Singer bezog sich auf Experimente des Amerikaners Benjamin Libet. Mittels Elektroden, die in bestimmte Hirnregionen des Menschen eingeführt wurden, konnte Libet nachweisen, dass das Hirn eine Willenshandlung schon zu planen beginnt, bevor der Mensch sie will oder eben meint, dass er sie will. Der Zeitunterschied beträgt bis zu einer halben Sekunde! Diese Beobachtung wurde mehrfach von anderen Untersuchern bestätigt. Wie geht man mit einem solchen Resultat um, das dem Bild von uns selbst so offenkundig widerspricht? Ignorieren? Aus ethischen Gründen verheimlichen? - Weit sinnvoller ist es, glaube ich, bereit zu sein, die Realitäten unseres Seins zu erkennen und zu akzeptieren, auch wenn sie desillusionierend sein sollten. Anlass zur Hoffnung besteht, dass der Mensch mit künftig mehr Wahrheit über sich selbst ein besserer sein wird, zumindest aber sein kann.

Prof. Dr. Gerald Wolf

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