Kein Frieden, nirgends in diesem Land
Lessings "Nathan der Weise" in den Freien Kammerspielen
"Der Jud' muß brennen!" Fassungslos erfährt der junge Tempelherr vom Patriarchen den Haß und die Menschenverachtung des Christen. Sein Verrat an Nathan hat Folgen. Für ihn und für seine Liebe zu Nathans Ziehtochter Recha, die ein Christenkind ist und nun seine Schwester sein soll. Und für Nathan, der sein Harmonium geschultert, mit einem Koffer aufbricht ins Ungewisse. Kein Frieden, nirgends in diesem Land. Das Miteinander der Religionen, die Akzeptanz des Andersdenkenden bleibt Utopie. Heute mehr, denn je!
Die Inszenierung von Tobias Wellemeyer in den Freien Kammerspielen ist kein "Hohelied" auf Toleranz und Menschlichkeit. Es ist die sehr differenzierte, höchst aktuelle Auslotung des Lessingtextes aus dem Heute, aus der Gefährdung des Menschen durch Gewalt und Vorurteil, in einem Land, das vom Krieg gezeichnet ist. Diese "aktuelle" Gefährdung ist in dieser Inszenierung latent vorhanden: Helikopter-Dröhnen, abgeworfenes Kriegs- und Überlebensmaterial, Munitionskisten. Das Spiel ist auf einer zwischen den Zuschauertraversen gebauten, dünenähnlichen Landschaft, einem Niemandsland unter Peitschenleuchten-Licht konzentriert. (Bühne: Jens Büttner).
Konflikt der Religionen
Lessings dramatisches Gedicht erweist sich als Konfliktstoff. Wellemeyer inszeniert diesen Konflikt der Religionen unmißverständlich als Macht- und Menschenkonflikt und läßt keine Zweifel daran, daß der Humanismus Nathans bloße Utopie bleibt, bleiben muß. Und so ist der Nathan Rainer Etzenbergs nicht der "weise Jude", sondern ein kalkulierender, sinnesfroher und auch sinnlicher Geschäftemacher, der mit seinem Harmonium den Beatles-Song "Hey, Jude" intoniert und sich immer wieder auch seiner Geld-"macht" bewußt ist. Die Ringparabel ist mehr "Notlösung", weil er auf die Frage des Sultans Saladin keine Antwort weiß. Gerade die Figur des Saladins, der hier sehr jung, sehr attraktiv, sehr bestimmt und ... sehr gefährlich ist (herausragend auch sprachlich der junge Kroate Josip Culjak) macht diese Inszenierung spannend. Das Geld des Juden macht er zu Waffen, berauscht sich an den Munitionskisten, küßt versonnen eine Handgranate. Sein "Nathan, sei mein Freund" bleibt eine hohle Phrase!
Tobias Wellemeyer gibt Lessings Figuren kantiges Profil. In der Art der Textbehandlung wirkt dieser "Nathan" ungemein modern, lebensnah, zuweilen witzig-heiter, ohne daß die Dialektik ihres Handelns verlorengeht. Es sind gebrochene Figuren, die von den Zuschauern auch irgendwie "entdeckt" werden sollen. Dies gilt vor allem für Sittah, Sultan Saladins Schwester, in ihrer ambivalenten, beherrschend-schwesterlichen Zuneigung (Birgit von Rönn), für die lebenspralle, sinnliche Daja (Franziska Kleinert), für die schwärmerisch-temperamentvolle Recha (Meike Finck) und den im Ranger-Outfit zwischen Liebe, Wut, Haß und sehr vielen Zweifeln hin- und hergerissenen Tempelherrn (Victor Tremmel), bei dem die Gefühle nicht allein in der Sprache, sondern im ganzen Körper zu spüren sind.
Ein bewegender Theaterabend als Herausforderung zum Nachdenken!