Immunisierung gegen Abzocke

09.04.2002 -  

Rezension

Frank P. Meyer
Arzneimittel – Hände der Götter?
318 Seiten, 15.30 Euro
dr. ziethen verlag,
Oschersleben 2001
ISBN 3-935358-28-8

Mit der "Ethik der Verordnung und Anwendung von Arzneimitteln" beschäftigt sich das lesenswerte Buch meines Fachkollegen von der Universität Magdeburg, fast ein Anachronismus in einer globalisierten Welt, in der kritische Wertungen bestenfalls als Handelshemmnis und ethische Zweifel als lebensfremder und dienstleistungsfeindlicher Luxus wahrgenommen werden.

Wenn man nach 1990 von den alten Bundesländern aus beobachten konnte, mit welchem materiellen Aufwand, mit welchen Strategien der wissenschaftlichen Desinformation und mit welchem Einsatz honorierter wissenschaftlicher Hilfstruppen die westliche Pharmaindustrie daran arbeitete, die therapeutischen Traditionen in der ehemaligen DDR schlecht zu machen, um dadurch für ihre - oft nicht besseren - Produkte Marktlücken zu schlagen, dann musste man sich Sorgen um die Qualität der arzneitherapeutischen Versorgung der Menschen und um die Existenz kritisch wertender medizinischer Wissenschaft in den neuen Bundesländern machen.

Aber vieles ist besser gelaufen als erwartet. Die gute akademische Tradition der unabhängigen und kritischen Wertung hat sich auch in den ostdeutschen Universitäten behauptet. Ein Beispiel ist dieses 318 Seiten starke Buch, das sich gut lesbar mit den Diskrepanzen zwischen vollmundigen Heilsversprechen des Pharma-Marketings, Therapie-Empfehlungen von Meinungsbildnern und klinisch-therapeutischer Datenlage beschäftigt. Und das ist notwendig, denn von den rund 20 Mrd. Euro, die die gesetzlichen Krankenkassen 2000 für Arzneimittel ausgegeben haben, entfielen immerhin noch 2,0 Mrd. e auf nutzlose oder umstrittene Arzneimittel und noch einmal 2,5 Mrd. Euro auf Scheininnovationen, die ohne Zusatznutzen allein mit großem Werbeaufwand in den Markt gedrückt werden, um durch überhöhte Gewinne den Shareholder-Value zu pflegen - auf Kosten der Versicherten, die die überhöhten Preise der Scheininnovationen mit steigenden Krankenkassenbeiträgen zu bezahlen haben.

Wie die Pharmaindustrie bei der Abzockerei vorgeht, das kann man in dem Buch gut nachlesen. Besonders interessant sind die kritischen Ausführungen zur zweckmäßigen Arzneimittelauswahl bei der Behandlung des Bluthochdrucks, zu den Grundlagen und dem Sinn der Senkung der Blutfette mit Lipidsenkern und zum Unsinn der Behandlung der Demenz im Alter mit so genannten Nootropika, die angeblich den "Hirnstoffwechsel" fördern sollen. Aber auch die Betrachtungen zum zweifelhaften Nutzen der Behandlung der Multiplen Sklerose mit Interferonen, die dem Hersteller wesentlich mehr nützt als dem Kranken, zu den nutzlosen Therapeutika zur Behandlung von Folgeerkrankungen der Zuckerkrankheit wie z.B. Alpha-Liponsäure bei der diabetischen Polyneuropathie und zum Unsinn der Antibiotika-Behandlung bei grippalen Infekten sind beachtenswert.

Auch andere Therapieprobleme werden dem Leser nahe gebracht, für die es noch keine gültigen Antworten gibt: Wirken Antidepressiva tatsächlich antidepressiv? Wie verbessert man die Schmerztherapie? Was nützen Vitamine? Wirken Rheumasalben?

Ausgezeichnet, weil sachkundig und kritisch, werden in vielen Abschnitten therapeutische Moden und Modetherapien dargestellt, besonders in dem Kapitel über die Behandlung von Krebserkrankungen und über die Behandlung mit Heilpflanzen. Gerade bei letzterem zeigt sich, dass die Praktiken des Marketings in der orthodoxen Arzneimitteltherapie und den besonderen Therapierichtungen völlig identisch sind, außer dass bei den letzteren meist mit gläubigem Augenaufschlag noch auf die besondere Natürlichkeit der häufig als "Arzneimittelmüll" zu charakterisierenden Heilmittel verwiesen wird.

Ein erfreuliches Buch, das sich wohltuend vom distanzlosen Werbegeklingel üblicher Patienten-Ratgeber und Informationsbroschüren der Hersteller unterscheidet. Wenn der Leser am Ende den Marketingleuten der Pharmaindustrie nichts mehr glauben will, dann ist das Lernziel erreicht. Er erwirbt damit eine Art Immunität gegen Abzockerei durch Werbeversprechen. Ein Kompliment dem Autor, der diese Immunisierung durchführbar werden lässt.

Letzte Änderung: 09.04.2002 - Ansprechpartner: Webmaster