Bestimmen Gefühle unser Handeln?

03.06.2002 -  

Otto-von-Guericke-Vorlesung widmete sich "wahrhaft klassischem Thema der abendländischen Philosophie"

Die inzwischen 13. Otto-von-Guericke-Vorlesung fand Anfang Mai 2002 an unserer Universität statt. Eingeladen war der Bremer Hirnforscher und Philosoph Professor Gerhard Roth, national und international bekannt durch zahlreiche Publikationen auf dem Gebiet der Hirnforschung. Rektor Professor Klaus Erich Pollmann kündigte die Vorlesung als ein wahrhaft klassisches Thema der abendländischen Philosophie an, und stellte die Frage: Eingrenzung oder Bereicherung? Ein solches Thema wissenschaftlich zu beleuchten, das weiß unser Gast zu beantworten.

Hirnforschung & Philosophie

Gerhard Roth studierte Philosophie und Musik, danach nahm er noch ein Studium der Biologie auf. In Philosophie und Biologie promovierte der Wissenschaftler und wurde mit 34 Jahren zum Professor für Verhaltensforschung an die Universität Bremen berufen. Seit 1997 ist Gerhard Roth Gründungsrektor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst, außerdem ist er Direktor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. In einer großen Zahl von Publikationen hat er sich im In- und Ausland einen Namen als einer der führenden deutschen Neurobiologen gemacht. Unter dem Titel Neurowissenschaften und Philosophie hat Gerhard Roth gemeinsam mit dem Magdeburger Philosophen Michael Pauen ein Buch herausgegeben.

Roth hat sich immer wieder mit den Konsequenzen der Hirnforschung für klassische philosophische Fragen wie die des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins und der Willensfreiheit auseinandergesetzt. Für seine herausragenden wissenschaftlichen Arbeiten wurde der Forscher in diesem Jahr mit der Urania-Medaille geehrt.

Eine enge Zusammenarbeit zwischen Professor Roth und den Magdeburger Neurowissenschaftlern der Universität und des Leibniz-Institutes für Neurobiologie besteht seit langem über den Verbund Neuro Nord und seit diesem Jahr auch über das Center for Advanced of Imaging. Damit erhält diese hochaktuelle Forschung neue Impulse.

Das Thema der 13. Otto-von-Guericke-Vorlesung lautete Das Verhältnis von Verstand und Gefühlen aus Sicht der Hirnforschung. Gleich zu Beginn der Vorlesung wies Professor Roth darauf hin, dass die Ansichten über das Verhältnis von Gefühlen und Verstand sich immer wieder tiefgreifend verändert hätten. Mittlerweile haben sich mehrere Disziplinen dieser Thematik zugewandt. Er selbst verfolgt diese Fragen aus der Perspektive des Hirnforschers. Anders als Emanuel Kant geht Gerhard Roth davon aus, dass Gefühle eine zentrale Bedeutung besitzen. Sie beeinflussen Verstand und Vernunft und bestimmen weitgehend unser Denken und Handeln.

Die Kenntnis des Gehirns, besonders der Großhirnrinde, lässt heute für den Hirnforscher eine funktionale Gliederung in Areale, die u.a. für Bewegungsvorstellungen, Analyse, Planung und Entscheidung oder Bewertung verantwortlich sind, zu. Diese Zentren sind wie ein Netzwerk miteinander verbunden und umfassen die gesamte Großhirnrinde. Man spricht von Sprach-, Hör- und Sehzentren. Sind diese Zentren geschädigt, kommt es zu schwerwiegenden Störungen der entsprechenden Funktionen.

Die Großhirnrinde umfasst nach heutigem Erkenntnisstand 50 bis 100 Milliarden Zellen, die wiederum jeweils mit bis zu 20 000 Zellen verknüpft sind - ein Wunderwerk für sich, wie Roth formulierte. Für ihn ist die Großhirnrinde ein ideales "Instrument" für die Speicherung und schnelle Verarbeitung großer heterogener Datenmengen in Zusammenhang mit komplexer Wahrnehmung und schnellem Erfassen einer Sachlage und Handlungsplanung. Für Emotionen, Affekte, Gefühle und Stimmungen ist vor allem das Limbische System verantwortlich. Verstand und Vernunft sind für Roth lediglich Hilfsmittel, die Gefühle bestimmen unsere Entscheidungen.

In diesem Zusammenhang widmete sich Roth auch der Funktion von Emotionen, einem Thema, das trotz bemerkenswerter Forschungsresultate immer noch zu wenig öffentliche Beachtung findet. Emotionen bestimmen nämlich nicht nur unsere Erfahrung, vielmehr haben sie tiefgreifende Auswirkungen auch auf scheinbar rein rationale Entscheidungen.

Dem Vortrag des Bremer Hirnforschers schloss sich im vollbesetzten Hörsaal 3 eine überaus konstruktive Diskussion, die von Philosophen, Neurobiologen, Neurologen und Medizinern getragen wurde, an. Der Vortrag machte deutlich, dass gerade auf dem Gebiet der Hirnforschung in der Zukunft noch sehr viel Arbeit notwendig ist, um die vielfältigen Leistungen des Gehirns zu erfassen und wissenschaftlich erklärbar zu machen. Darüber hinaus werden von dieser Forschung auch neue Wege der Therapie von schwerwiegenden Erkrankungen des Gehirns erwartet.

Die NORD/LB Mitteldeutsche Landesbank fördert seit 1995 die Otto-von-Guericke-Vorlesungsreihe. In halbjährlichem Turnus halten renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, die die Fähigkeit zur Öffentlichkeitswirksamkeit mit herausragender Fachkompetenz verbinden, im Rahmen der Otto-von-Guericke-Vorlesungen Vorträge.

Letzte Änderung: 03.06.2002 - Ansprechpartner: Webmaster