Figuren scheinen aus einem "Tollhaus der Eitelkeiten"
Russische Avantgarde mit dem Studententheater DER SCHRANK
Die studentische Theatergruppe mit dem seltsamen Namen DER SCHRANK ist in der freien Theaterszene Magdeburgs längst zu einem Begriff geworden. Mit ihren Stücken der russischen Avantgarde bringen die Studierenden der Slavistik, Geschichte, Psychologie, Germanistik und Wirtschaftswissenschaften in eigenwilligen Inszenierungen, die immer eine Gratwanderung zwischen Tragik und Komik darstellen, eine ganz neue Farbe in die "Theaterlandschaft" der Elbestadt. Dass dabei der Zuschauer oft mit auf eine Entdeckungsreise in unbekannte Bereiche russischer Dramatik genommen wird und dabei theatralischen Spaß mit tieferer Bedeutung erlebt, ist das Verdienst von Prof. Dr. Gudrun Goes, die, als ausgewiesene Expertin für russische Literatur, die Stücke für ihre schauspielernde Studentencrew nicht nur bearbeitet, sondern auch dabei Regie führt.
Nach dem Erfolg mit dem absurden Drama Weihnachten bei Ivanovs von Aleksandr Vvendskij (Namensgeber des Studententheaters, weil er in den 30er Jahren immer mit einem Schrank durch die Lande zog) folgten die Stücke Dysmorphomanie von Vladimir Sorokin und Daniel Charmss Jelisaweta Bam. Mit der vierten Inszenierung, Nikolai Erdmanns satirische Komödie Der Selbstmörder, haben die jungen Mimen im Spiel eine neue Qualität erreicht, die die mehr als zweistündige Aufführung nicht nur zu einem vergnüglich-amüsanten Theaterabend werden lässt. Man wird auch angeregt, über vieles, was in dramaturgischer und auch sprachlicher Überhöhung auf der Bühne dargestellt wird, ernsthaft nachzudenken. Und was will und kann Theater mehr!
Zunächst ist frappierend, wie die Professorin am Institut für Fremdsprachliche Philologien der Magdeburger Universität aus dem überlangen fünfaktigen Stück eine komprimierte Spielfassung erstellt hat, die ohne die einzelnen Figuren zu demontieren, sich auf das Wesentliche und Charakteristische der Personen konzentriert. Diese Figuren um den "Selbstmörder" Semjon Podsekalnikov scheinen wie aus einem Panoptikum, einem "Tollhaus der Eitelkeiten". Ihre Auftritte sind äußerst publikumswirksam und effektvoll inszeniert, dass nicht selten Szenenbeifall das Spiel der Laiendarsteller begleitet. Die beherrschen nicht nur exzellent den komplizierten Text, sondern geben in ihren, mit Sprache, Gestik und Mimik ausgekleideten Figurendarstellungen unter ganz sparsamer Nutzung von Äußerlichkeiten an Bühnenbild und Requisiten eine Individualität, die bei den jugendlichen Darstellern fast schon etwas Schauspielerisch-Professionelles hat.
Wie viel Detailarbeit muss die Regisseurin an Ideen und akribischer (auch sprachlicher) Arbeit investiert haben, um zum Beispiel das "Abschiedsbankett" am Ende des ersten Teils der Aufführung, bei der alle den Zeitpunkt des angekündigten Selbstmordes "herbeisehnen" und ihre Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste und geheimem Wüsche in Wodka ertränken, so auf die Bühne zu bringen? Diese Tafelrunde des Mit- und Gegeneinander von Argumenten, des verbalen Schlagabtauschs zwischen Intelligenz und Klerus, zwischen Proletariat und "Aperatschniks" mit der in einen kollektivem Wodkarausch eskalierenden "russischen Verbrüderung" rückt Nikolai Erdmanns brillantes Stück in die Nähe von Majakovskijs Schwitzbad. Und nicht von ungefähr fühlte ich mich an Bertolt Brechts Die Kleinbürgerhochzeit gerade bei dieser schauspielerisch erstklassig dargebotenen "Bankettszene à la Russe" erinnert.
In zwei Sprachen
Auch in dieser Inszenierung bringt Gudrun Goes das Russische im Original ein. Irina Kwascha brilliert als ewig jammernde Mutter Serafima Iljinischna im Hin und Her zwischen beiden Sprachen. Und Anke Krieg als beflissen-dogmatischer "Nachbar" Alexander Kalabuschkin macht jeden ihrer Auftritte zu einem kleinen schauspielerischen Kabinettstückchen. Daniel Bergmann als "Selbstmörder" Semjon verkörpert äußerst subtil das Genervtsein von soviel Chaos und seine geheimen Wünsche nach ... Ja, wonach denn? Alle Personen dieses Stückes - zwei Damen, ein Pope, Schriftsteller, Gastwirt, Fleischhändler, die redeschwingenden Vertreter der "Intelligenzija" und des Proletariats - fokussieren in den Abschiedsbriefen, die sie für Semjon verfassen, ihre Sehnsucht nach Leben, Liebe, Verständnis. Die angekündigte Selbstmordkatastrophe wird zum kollektiven Showdown! Die Katastrophe bleibt unausweichlich.
Hochachtung vor allen Mitwirkenden Akteuren in großen und kleinen Rollen: Irina Benkenstein, Vivien Schwaneberg, Kristina Stampe, Jana Grundmann, Christian Geiser, Dorothee Heipertz, Norman Wishet und Jana Ignatius. Und natürlich für die Souffleuse Katja Kauer, die an diesem Abend fast gar nichts zu tun hatte.