Ungewohnte Sichtweisen
Tanzfest in den Freien Kammerspielen
Das Konzept der Freien Kammerspiele ging auf: Bis weit nach Mitternacht hinein diskutierten an jedem der drei Abende des Tanzfestes #1 keep pushing, keep moving Tanzenthusiasten, Tänzer, Schauspieler und Choreographen über zeitgenössischen Tanz und seine Möglichkeiten, alle Sinne anzusprechen und zu provozieren, Grenzen zu verschieben und ungewohnte Sichtweisen zu eröffnen. Und der von Kuratorin Barbara Friedrich (Berlin) konzipierte Eröffnungsabend machte sehr überzeugend das Anliegen und die Intentionen der auf Fortsetzung angelegten Reihe von mehrtägigen Tanzperformances deutlich, die das Profil der Magdeburger Freien Kammerspiele künftig mit prägen sollen. Multikulturelles, multinationales und multimediales Tanztheater mit Choreographien junger innovativer Künstler aus dem In- und Ausland, das sich neben Sprache und Bewegung, Musik und Geräuschen vor allem der Ausdrucksmittel des Körpers in rasanten, immer wieder neuen und überraschenden Metamorphosen bedient.
Ausgefeilte Posen
Anke Glasow, Absolventin der berühmten Dresdner Palucca-Schule und geprägt durch die Zusammenarbeit mit Tom Schilling und Birgit Scherzer, tanzte in ihrer eigenen Choreographie Die Zecke in atemberaubenden, technisch bis ins kleinste Detail ausgefeilten Bewegungsposen, sich immer neu variierenden tänzerischen Erkundungen des Körpers über Verquerungen und Verschlingungen aller Gliedmaßen bis zu fast akrobatischen Spreizungen und Verrenkungen das Psychogramm einer Frau zwischen Realität und Fiktion. Der Schauspieler Sven Sorring wird wie Tisch und Stühle zum "Sparringpartner", ein Kraftpaket von exzessiver Dominanz, die durch die tänzerische Energie der Frau in ihrer bedingungslosen Sicht auf das Leben gebrochen wird. Geräuschcollagen schaffen Nähe und Distanz zugleich. Ein tänzerisches Ereignis!
Mit Tänzern aus Israel, Deutschland und Frankreich brachte Sommer Ulrickson das Tanzstück Jerusalem Syndrom als multimediale Performance für Tänzer und Schauspieler auf die Bühne. Fünf Tänzer erkunden in oft simultan getanzten Szenen vor Videobildern "ihr" Verhältnis zu Jesus. Mit sphärisch unwirklichen Klängen und folkloristischer Musik wird mit unglaublicher Körperlichkeit der Tanz der Individualisten immer wieder zu synchronen Formationen geführt. Es entsteht ein assoziationsreiches Tanztheater - kommunikativ, agitatorisch, direkt und in seiner "göttlichen" Dimension sinnlich. Herausragend die Tänzer Florian Bilbao, Anna-Luise Recke und die aus Israel stammende Yael Schnell.
Zwei Uraufführungen
Die Spannbreite der tänzerischen Darbietungen war groß. Überzeugend interpretierte Ingo Reulicke das Psychogramm eines auf sich selbst fixierten, immerwährend im Bewegungsfluss befindlichen Menschen auf der Suche nach eigener Identität in The Wandering Problem. Für Vielfalt stand auch das Tanzstück fallen von Jess Curtis (Gravity & Fabrik Companie Potsdam). Sechs Tänzerinnen und Tänzer gestalteten in unglaublicher Variation von Körperbewegungen zwischen synchroner Rhythmik und in Pose verfallener Theatralik das Sich-Fallen-Lassen als einen Akt der Zerstörung und des Sich-Wiederfindens. Dabei wurde der menschliche Körper an Vertikalseil, Wand und auf dem Boden zum Objekt zwischenmenschlicher Kräfte im Wechsel von Annäherung und Abstoßung. Das TANZPAKET 2 Berlin brachte zwei Uraufführungen von Holger Bey und das Tanzstück ichdichauch von Sommer Ulrickson und Rachael Lincoln. Die beiden amerikanischen Tänzerinnen tanzten in atemberaubendem Tempo und mit immer neuen Erfindungen von Bewegungen ihrer geschmeidigen Körper mit Ironie und tänzerisch-heiterer Gelassenheit. Ihr Spiel mit Bierflaschen, Tisch und Stuhl als Slapstick war verblüffend, ihre Körpersprache von hoher Musikalität.
Am Ende waren sich alle über den Erfolg einig und darüber , das im März 2004 das Tanzfest #2, die neue Reihe fortsetzen wird.