Reflexionen über Wirklichkeiten
"Schauspiel Magdeburg" mit brisanter zeitgenössischer Dramatik
Der sexuelle Missbrauch in der Familie, den das 1993 uraufgeführte Stück Tätowierung der jungen Autorin Dea Loher jetzt im Theater der Landeshauptstadt (Podiumbühne) in beklemmenden Bildern und einer schonungslos harten Sprache thematisiert, hinterlässt lebenslängliche, unauslöschliche Spuren bei den Opfern. Es sind in diesem betroffen machenden Stück glücklose Menschen, die voneinander nicht loskommen, die zerstört sind und sich immer weiter bis zur gewaltsamen Eskalation zerstören. Für dieses beklemmende Seelendrama hat David Gerlach (Regie) eine beeindruckende Bildersprache gefunden. Die Personen bewegen sich in einer gewölbten, labyrinthartigen Bühnenlandschaft (Christian Baumgärtel) wie in einem Irrgarten, der ein Entkommen, ein sich Entziehen unmöglich macht. Sie spielen sichtbar und unsichtbar in den "Gräben" und besteigen die Podeste immer dann, wenn sie ihr Inneres ganz und gar preisgeben, ihren Schmerz hinausschreien, sich vor sich selbst rechtfertigen, von einer glücklichen Zukunft, von Ängsten und Schmerzen reden wollen. Es sind Momentaufnahmen, die sich oft wie durch filmische Überblendungen sich nach und nach bis zum tödlichen Schluss zum Ganzen fügen. Der Regisseur vertraut gänzlich auf die präzise Sprache des Stückes und auf die Schauspieler, die hier mit einer selten so erlebten intensiven Körpersprache die seelischen Verwundungen und ihre Folgen, die Brutalität einer allesbeherrschenden Vater-Gewalt transparent werden lassen. Beeindruckend ist das Ensemblespiel, das weit mehr als die Summe exzellenter einzelner Schauspielerleistungen ist. (Arnim Winkler, Isolde Kühn, Tabea Scholz sowie Nicole Lippold und Robert Neumann als junge Absolventen der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch").
Die Freien Kammerspiele thematisierten das wechselvolle, zum Mythos verklärte Leben und Sterben des kubanischen Revolutinärs Che Guevara in einem durch Originaltexte aus Reden und Schriften von Che und seinen Weggefährten (u.a. Fidel Castro) als szenische Collage gestalteten Theaterprojekt unter dem Titel Wanted: Che. Die Zuschauer geraten mit einer Flut von Text- und Bildinformationen per Videoeinspielung, durch martialische kollektive Trommelrituale in den Sog einer mehr auf Äußerlichkeiten orientierten (fast) Agit-Prop-Performence. Obwohl Che zeitweise durch drei Schauspieler (Renè Schwittay, Andree-Östen Solvik, Mirko Zschokke) verkörpert wird, bleibt das Bild von der "Gesamtfigur" Che Guevara zu bruchstückhaft, wird seine Abkehr von den politischen Praktiken seiner kubanischen Weggefährten nicht ganz überzeugend vermittelt. Merkwürdig textlich wie szenisch von Autor und Regisseur Matthias Thieme "unterbelichtet" bleiben die das auch sinnliche Leben Che's bestimmenden Frauen.
Amok gegen Männer
Der Film Baise moi – Fick mich nach dem gleichnamigen Roman der Französin Virginie Despentes schildert die Flucht zweier junger Frauen vor der Polizei als eine Art mörderische und sexbestimmte Odyssee. Der Film gelangte wegen der Gewalt- und Pornoszenen in Frankreich auf den Index. In der Uraufführung der von Uwe Bautz besorgten Bühnenfassung in den Freien Kammerspielen spielt das Stück in der Magdeburger Plattenbausiedlung am Neustädter See. Die Pornodarstellerin Manu (Christiane Höfler) und die Prostituierte Nadine (Meicke Finck) sind hier auch nicht in erster Linie auf der Flucht vor der Polizei, sondern eher vor sich selbst und vor der Tristesse einer für sie hoffnungslosen Existenz. Mörderische Gewalt als "Überlebensdroge" in einem hasserfüllten Amok gegen Männer. Beeindruckend, wie sich aus einer scheinbaren Handlungslosigkeit des Stückes das Psychogramm der beiden ungleichen Gefährtinnen sukzessive ergibt und sich dabei auch berührende Seiten ihrer Persönlichkeiten offenbahren. Wohltuend (entgegen mancher Erwartungen) die szenische Zurückhaltung von Regisseurin Katka Schroth bei den sexuellen Obzessionen des sich in Sehnsucht nach Gewalt und Exzess in einer sterilen Welt des totalen Konsums verzehrenden Mörderinnen-Duos. Auch hier (Andrea Sawallisch und Josip Culjak einbezogen) exzellente schauspielerische Leistungen der Akteure in einem aufregenden Theaterabend.