Bewegende Musik vom Kämpfen, Leiden und Sterben Jesu

21.05.2004 -  

Universitätschor interpretierte Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion

Große Besetzung, große Musik, große Gefühle. Geistlicher Gesang und Musik ist bestenfalls Verkündigung. Am Karfreitagabend ist das der Fall gewesen. Die Bewegung des Publikums und die Thematik des Kreuzestodes Jesu lassen Beifall nicht zu. Als Zeichen des Dankes, der Bewegung rührte, das Publikum in der überfüllten Johanniskirche nicht die Hände, sondern erhebt sich geschlossen, stumm.

Wie ein Eingangstor öffnet sich die Choralfantasie Kommt ihr Töchter, helft mir klagen zum Geschehen: des mit List, Verrat, Einsamkeit und Spott zur Verurteilung getriebenen Menschensohns. Das Komplott der Hohenpriester und Schriftgelehrten führt über das letzte Passamal Jesu mit den Jüngern, die Gefangennahme (I.Teil), Jesu Verurteilung, Kreuzigung, seinen Tod bis zur Grablegung Jesu durch den "geheimen Jünger" Joseph von Arimathia (II.Teil). Bach hat nicht nur musikalisch "gepredigt", er hat mit bildhafter, genialer Ausgewogenheit die dramatische Handlung nach dem Evangelisten Matthäus vom Kämpfen, Leiden und Sterben Jesu erzählt. Nicht etwa ästhetisch geglättet: Nein, alle aufeinandertreffenden Extreme sind musikalisch thematisiert. Unter umsichtiger, fein gestaltender, die affektiven Extreme gekonnt herausarbeitender Leitung von KMD Günther Hoff sind als Vokalsolisten die in Magdeburg geschätzten Marietta Zumbült, Weimar (Sopran), Beate Rauschenbach, Berlin (Alt), für den 24 Stunden vor Beginn ausgefallenen Uwe Stickert Dirk Kleinke, Berlin (Tenor/Rezitative), Mario Hoff, Weimar (Bariton/Jesus) sowie Karsten Mewes, Berlin (Bass), gewonnen worden. Wie von Bach gefordert singen zwei Chöre: der komplette Magdeburger Universitätschor und ein Teil der Potsdamer Singakademie. Klangkörper ist das Mitteldeutsche Kammerorchester, ergänzt um Gäste aus dem Kammerorchester des Telemann-Konservatoriums Magdeburg. Als erneut feinfühlige basso-continuo-Spieler an der kleinen Orgel Martin Hoff und an der großen Orgel Anne Hoff (beide aus Meiningen).

Ausgewogenheit

Die Rezitative, wunderbar untermalt, werden mal ruhig erzählend, mal aufgewühlt heftig, mal betonend im Sprechgesang – in kausaler Entsprechung des jeweiligen Inhalts – großartig vom "Evangelisten" Dirk Kleinke gestaltet. Für seine Professionalität spricht, dass trotz der Textmenge stimmlich-qualitative Schwankungen völlig vermieden wurden. Neben Petrus wird der nuancenreiche Jesuspart zwischen Glaubensgewissheit und Angst, zwischen Selbstbewusstsein und Zweifel vom Bariton Mario Hoff in seltener Einheit von jeweils differenziertem Stimmvolumen und Artikulationsweise bewegend gestaltet, etwa Meine Seele ist betrübt. Der Bass Karsten Mewes setzt deutlich charakterisierend Judas und Petrus als auf individuelle Weise Abtrünnige mit kultiviertem Timbre ins Bild. Alle Sopran- und Altarien, gerade in ihrer reflektierenden Weise für den Zuhörer aufschlussreich, wünschte man sich deutlicher im Text – ein Hochgenuss jedoch die Ausgewogenheit zwischen Solostimme und Instrument, ein Lustgewinn die sie obligat, zart ergänzenden und differenziert begleitetenden zwei Oboen, die zwei Querflöten, die zwei Fagotte! Weitere ,Offenbarungen': der kontemplative Klang der Viola da gamba bei der Tenorarie Wenn mich falsche Zungen stechen und bei der Bassarie Komm, süßes Kreuz, die Sologeige zur Bassarie Gebt mir meinen Jesu wieder oder sämtliche continuo-Stellen als sinnige Untermalung mit einer Orgel, einem Cello und einem Kontrabass! Bachs Genialität zeigt sich u.a. in der Angemessenheit der Klangfarbe und Rhythmik an die jeweilige Stimmung der Handlung.

Bachs Vielfalt von der Arie mit Einwürfen des Chores, von Echoeffekten im versetzten Rollensingen beider Chöre über hohe Geschwindigkeiten bei Visionen und dem Geschrei des Mobs bis zu kontemplativen Chorälen – die Doppelchörigkeit wurde von beiden Chören gekonnt gemeistert, klanglich und stimmungs-nuanciert. Hohe Stimmkultur ob im forte und piano, im crescendo und decrescendo, im abgesetzt-silbentrennenden (Spott, Hohn, Hass) oder im den Text zusammenziehenden, getragenen Duktus (Choräle der Trauer, der Ehre, der Einsicht, der Betroffenheit), dramaturgisch geführt vom Dirigenten, die Texte sorgsam gewichtend, differenziert, homogen, die Bachsche Chromatik sauber interpretierend.

Dank an Günther Hoff für seinen Mut und sein musikdramaturgisches Geschick, Dank allen Instrumentalisten und Vokalisten, Dank dem Publikum für 180 Minuten Konzentration und bewiesenes Gespür für angemessen-taktvolles Mitgehen. Was gibt es Schöneres für den Dirigenten, die Instrumentalisten und Vokalisten, als die Gewissheit, verstanden worden zu sein?

Letzte Änderung: 21.05.2004 - Ansprechpartner: Webmaster