Wiedervereinigung im Spannungsfeld
Ökonomisch unverantwortlich, politisch unabwendbar: die deutsche Wiedervereinigung - 21. Otto-von-Guericke-Vorlesung
Einer guten Tradition folgend, hatte die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Ende Januar 2007 zur bereits 21. Otto-von-Guericke-Vorlesung geladen. Die Gefährdung des deutschen Sozialstaates durch die finanziellen Lasten der Wiedervereinigung stand im Mittelpunkt des mit Spannung erwarteten Vortrages von Prof. Dr. h. c. em. Gerhard A. Ritter. Immerhin hatte sein kurz zuvor im Verlag C.H.Beck erschienenes Buch, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, Grundlage der Vorlesung, im Vorfeld für einiges Aufsehen gesorgt. Wie der anwesende Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, Prof. Dr. Wolfgang Böhmer, in seinem Grußwort bekannte, hatte er sich eben jenes Buch selbst zum Weihnachtsgeschenk gemacht.
Eigendynamik nachgezeichnet
Der Münchener Emeritus und Nestor der deutschen Sozialgeschichte hat in seinen Forschungsarbeiten zur Deutschen Einheit auf der Basis von unveröffentlichten Quellen und Interviews mit aktiv handelnden Zeitzeugen die Eigendynamik des inneren Einigungsprozesses und dessen internationale Einbindung in seinen komplexen Zusammenhängen nachgezeichnet.
Trat doch die Wiedervereinigung als überraschendes Wunder in die Welt und bildet historisch gleich der französischen Revolution und den Ereignissen des Jahres 1918 eine tiefe Zäsur in der deutschen und europäischen Geschichte. Dabei war die innere und äußere Konstellation, die letztendlich zur Wiedervereinigung führen konnte, historisch einmalig und das Zeitfenster dafür stand wohl nur einen Lidschlag lang offen.
Dem ungeheuren Druck der international divergierenden Interessen und dem beginnenden Zusammenbruch eines Weltsystems einerseits und von rebellierenden, zur D-Mark strebenden DDR-Bürgern andererseits ist es geschuldet, dass die Wiedervereinigung so, wie von Gerhard Ritter in ihrer Dialektik treffend charakterisiert, vollzogen wurde: Ökonomisch unverantwortlich - politisch unabwendbar.
Ansätze einer behutsamen Reformierung der DDR und ihre Protagonisten wurden von der Wirklichkeit überholt und von der Dynamik der Ereignisse einfach hinweggefegt.
Die frei gewählte Volkskammer und der Bundestag waren an diesen Prozessen nur randständig beteiligt, die Ministerialbürokratie setzte in kleinen Expertenrunden und Kommissionen getroffene Entscheidungen rasant in die Praxis um. Die wirtschaftlichen Folgen des Tausches Ost-Mark in D-Mark im Verhältnis von 1:1 waren, bei gleichzeitiger Übernahme des westdeutschen Tarifsystems, eine über Nacht konkurrenzunfähige gewordene DDR-Wirtschaft, Massenarbeitslosigkeit, horrende Kosten für die Errichtung eines zweiten, staatlichen Arbeitsmarktes und folgende Frühverrentungen unter Überstrapazierung der Rentenkassen. Die Übernahme des bundesdeutschen Sozialstaates, ebenfalls im Verhältnis von 1:1, führte einerseits zur Abfederung der sozialen Folgen der Wiedervereinigung in der ehemaligen DDR besonders unter den Schwächsten: Rentnern, Witwen, Kriegsopfern und Behinderten.
Vielzahl von Versäumnissen
Zugleich bewirkte die Übertragung eines eng an die Erwerbsarbeit gekoppelten Sozialversicherungssystems, welches sich nicht aus Steuern, sondern aus Beiträgen von Versicherten und Unternehmen finanzierte, ein Ansteigen der Lohnnebenkosten und damit eine weitere Schädigung der Konkurrenzfähigkeit des gesamten Standortes Deutschland.
Abschließend wies Prof. Ritter darauf hin, dass bei der Umsetzung der mit hohen wirtschaftlichen Kosten und der Belastung der sozialen Sicherungssysteme teuer bezahlten deutschen Wiedervereinigung, im nachhinein eine Vielzahl von Versäumnissen, Fehlentscheidungen, uneffektiven oder verschleppten Lösungen aufgedeckt werden könnte. Als besonders verhängnisvoll erwies sich dabei die einseitige Bevorzugung des Sozialstaates vor der Marktwirtschaft. Ohne eine soziale Abfederung wäre die deutsche Einheit politisch jedoch nicht durchsetzbar gewesen.
Aus diesem Grunde plädierte der Sozialgeschichtler auch nicht für den Abbau, wohl aber für den Umbau des Sozialstaats. Die Chancen dafür stehen allerdings schlecht, wie er ausführte. Der permanente Wahlkampf, Landtags- und Kommunalwahlen in nunmehr 16 Bundesländern, verführten Politiker aller Ebenen zu einer kurzzeitig ausgerichteten Politik und zu permanenten Kompromissen mit unterschiedlichsten Interessengruppen auf der Ebene des geringsten gemeinsamen Nenners, um die Chancen auf Wiederwahl und Machterhalt zu maximieren. Ein Problem, welches die Wiedervereinigung ebenfalls noch verstärkt hat.
Die Otto-von-Guericke-Vorlesungen führen seit 1995 Universität und Öffentlichkeit zusammen und finden große Resonanz. Gefördert werden sie von der NORD/LB Mitteldeutsche Landesbank.