"Kräftig in die Suppe spucken"
Günter Grass las aus seinem Buch "Unterwegs von Deutschland nach Deutschland - Tagebuch 1990"
Die Karten ausverkauft, das Lesepult aufgebaut, der Rotwein bereitgestellt, die lange Schlange vor dem Hörsaal 1 rasch nach dem Öffnen der Türen in seinem Innern verschwunden. Wer noch eine übriggebliebene Karte anzubieten hat, wird sie reißend los. Alles fertig für die Lesung von Günter Grass aus seinem neuen Buch Unterwegs von Deutschland nach Deutschland - Tagebuch 1990. Eine große Bereicherung für eine technisch orientierte Universität, den größten deutschen Literaten der Nachkriegszeit zu Gast zu haben, begrüßt der Rektor der Universität, Prof. Dr. Klaus Erich Pollmann, den Literaturnobelpreisträger. 20 Jahre nach 1989 sei es an der Zeit für erste Historisierungsprozesse.
"Wende" unangebracht
Den Abend moderiert Markus Meckel, Mitglied des Bundestags, Pfarrer und Außenminister der letzten freigewählten Regierung der DDR. Erzählt zur Einleitung über seine Erinnerungen an Grass, meint, dass ihm der vielbenutzte Begriff der "Wende" für die 15 Monate vom Sommer 1989 bis zum Oktober 1990 als unangebracht erscheine, da er eigentlich von Egon Krenz stamme und erläutert, warum es im März 1990 noch freie Wahlen in der damaligen DDR gegeben hatte.
Auf dem Lesepult das (Tage-)Buch, das Günter Grass mit dem Jahr 1990, in Portugal, begonnen hatte zu schreiben - Gedanken, Ideen, Beobachtungen. Er sei kein passionierter Tagebuchschreiber und doch hat damals eine bis heute anhaltende Zeit des intensiven Notierens begonnen.
Klare Worte
Nach dem Mauerfall ist Deutschland im Umbruch, und Günter Grass will nah dran sein an der Stimmung unter den Menschen und den politischen Debatten. Also macht er sich auf in den Osten, schreibt und zeichnet auf, was er da sieht und erlebt im Zug, im Haus eines Drogisten, vor der Leipziger Nikolaikirche auf dem "Platz der Angeschmierten", in der Braunkohlegegend um Cottbus. Manchmal in derben Worten, manchmal nachdenklich, manchmal nur in Stichpunkten - immer aber genau beobachtend, scharf analysierend, sich einmischend und politisch. Eine Zeit, um unpolitisch zu sein? Nein, ganz sicher nicht. Die Währungsunion sei ein Flop gewesen - das Westgeld wird für Westprodukte und Westreisen ausgegeben. Die ostdeutsche Wirtschaft blutet aus. Zustimmung aus dem Saal von den "Älteren", die diese Zeit aktiv erlebt haben. Staunen bei den "Nachwendegeborenen" über diese drastisch klaren Worte, wie sie an diesem Abend immer wieder von Günter Grass zu hören sind. Wenn er über die "Schnäpchenjäger aus dem Westen" spricht, die "über den Osten hergefallen" sind, noch bevor die "Treuhand ihr kriminelles Unwesen getrieben hat" oder das "planmäßige Ausschalten der Konkurrenz im Osten" läuft Grass zur Hochform auf. Das habe es nicht mal zur Zeit der Raubritter gegeben. Und erst die Verfassungsdiskussion! Und das Heer von Westbeamten, die quasi wie Kollonialbeamte im Osten Einzug halten.
Dem Argument Markus Meckels, dass Währungsunion und Anschluss an die Bundesrepublik schließlich Volkes Wille gewesen sei, hält Günter Grass entgegen: Was eine Bevölkerung will, sei manchmal ziemlich fragwürdig. Politisch verantwortlich sei es, unter Umständen auch gegen den erklärten Volkswillen zu handeln - immer die Folgen im Blick. Die Einheit sei auf Pump aufgebaut. Dies habe zur heutigen Schuldenlast geführt, die auch künftige Generationen noch begleiten werde.
Wer heute etwas besser machen wolle, müsse aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Er werde sie immer wieder aufzeigen, immer wieder daran erinnern und damit den Festtagsrednern zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution in der DDR "kräftig in die Suppe spucken".
Eine spannende Diskussion mit deutlichen Worten, die vielen im Saal aus dem Herzen sprachen - immer wieder zustimmendes Nicken und bestätigendes Gemurmel. Leider aber zu wenig Lesung.
Und am Ende wieder eine Schlange - für ein Autogramm von Günter Grass in seinem Unterwegs von Deutschland nach Deutschland - Tagebuch 1990.