Eine Weltsprache
Kontroverse Diskussion um Esperanto
Die Vorlesung von Prof. Dr. Giordano Formizzi (Universität Verona, Italien) über Probleme einer universellen Pädagogik und (Fremd-)Sprache war wirklich außergewöhnlich anregend und provozierend zugleich. Prof. Formizzi, leidenschaftlicher Weltbürger, Comeniologe und Esperantist, war der Einladung des Lehrstuhlinhabers Historische und Vergleichende Erziehungswissenschaft, Prof. Reinhard Golz, einem Skeptiker in Sachen Esperanto, gefolgt. Sicher waren auch unter den Hörern weitere Zweifler an der historischen, aktuellen und künftigen Durchsetzbarkeit einer künstlichen, nicht in einem bestimmten Volk entwickelten, Plansprache.
Formizzis Ausgangspunkt ist die Forderung nach wirklicher Durchsetzung der in Verfassungen beschriebenen Menschenrechte. Im Sinne des Jan Amos Comenius (1592-1670) fordert er eine universelle, an den Menschen orientierte Pädagogik und Weltsprache, um eine Weltidentität herzustellen.
Sprache und Macht
Laut Formizzi hat sich die englische Sprache als die Weltsprache „eingeschlichen“, aber es sei fraglich, ob eine Nationalsprache zugleich Weltsprache sein könne. Formizzi fordert eine Weltsprache, die nicht zur Macht mißbraucht werden kann. Er fordert eine universelle Sprache für alle Menschen. Alle Kinder würden die gleiche Sprache lernen, die sich durch nichts weiter auszeichnet als durch Humanität. Unter den heute am weitesten verbreiteten Plansprachen sei die „Internacia Lingvo“, eine von „Dr. Esperanto“ (Pseudonym für L. L. Zamenhof) 1887 entwickelte Sprache (kurz: Esperanto) am besten dafür geeignet. Esperanto ist nach dem Kriterium der Vernunft entworfen, einfach aufgebaut und zu bilden und verzichtet auf die üblichen, unnötigen und unlogischen grammatikalischen Verstrickungen. Es birgt aber dennoch alles Wesentliche in sich. Die Grammatik besteht aus nur wenigen Regeln, der Wortschatz ist theoretisch unbegrenzt. Esperanto ist vielen Sprachen entlehnt, besteht allerdings zu ca. 60 Prozent aus lateinischem Grundwortschatz.
Die Rolle des Lateins
Hier setzten die kritischen Diskussionen mit den Teilnehmern der Veranstaltung an. Soll nun Latein die Rolle des Englischen wieder übernehmen? Latein sei eine neutrale Sprache, die keinerlei Macht verkörpere, argumentiert Formizzi. Es gibt weitere Kontroversen, z. B. um das Problem der Übersetzung und das Erlernen dieser Fremdsprache. Formizzi rechtfertigt seinen Standpunkt folgendermaßen: zunächst sei jede Fremdsprache schwer zu erlernen. Es tut nichts zur Sache, ob es sich hierbei um Latein oder Englisch handelt, nur Latein ist für alle Menschen fremd, und darum geht es. Bei Übersetzungen geht immer etwas verloren, aber nie das Entscheidende. Außerdem würden alle Kinder auf der Welt die gleichen Übersetzungen lesen. Eine Weltsprache soll zur Muttersprache jeder Nation werden und damit zu einem Weltdenken und einer Weltlpädagogik anregen. Die Nationalität sei nicht völlig zu verwerfen, aber dem Ganzen unterzuordnen. Es sei wichtig, Traditionen und Nationalität zu pflegen, nur sollte man Nationales nicht der ganzen Welt aufzwingen.
Prof. Formizzi macht aus seiner Ablehnung einer Nationalsprache (der englischen) als Weltsprache keinen Hehl. Nach seiner Auffassung beugten sich die Menschen der Aufforderung: “Knien Sie nieder vor der Macht und lernen Sie Englisch!”
Des weiteren wurde die Möglichkeit der Individualität innerhalb dieser weltweiten Sprache bezweifelt. Formizzi schlägt seine Gegner mit einem brillanten Argument, dem der Musik, die nur aus Noten besteht. Musik ist eine universelle Sprache, einfach aufgebaut, verbindet Menschen überall auf der Welt und läßt jede Möglichkeit zu Individualität offen.
Nur bei folgenden Fragen muß Prof. Formizzi Antworten schuldig bleiben: Hat sich Esperanto jemals in der Geschichte als Weltsprache durchsetzen können? Immerhin gibt es sie schon seit 110 Jahren. Ist es angesichts gegenwärtiger Entwicklung nicht realistischer, zumindest eine Sprache aus dem westlichen und eine aus dem östlichen Kulturkreis zu erlernen, um die Internationalisierung des Lebens hier und heute zu meistern? Ist Esperanto überhaupt und in der Zukunft als Weltsprache zu verwirklichen – angesichts der Dominanz des Englischen und anderer Nationalsprachen? Formizzi hofft es.
Anja Grosch