Können wir nur aus Katastrophen lernen?

08.06.1998 -  

Gegenwartsphilosoph Jürgen Habermas sprach über die Risiken der Globalisierung

Am selben Tag, an dem sich Bill Clinton in Berlin für eine Einigung Europas im Hinblick auf eine globalisierte Ökonomie ausgesprochen und Reinhard Höppner in Magdeburg den letzten Gesprächsversuch mit der CDU für gescheitert erklärt hatte, drängten sich nicht nur die Lehrkräfte und Studierenden der Universität, sondern auch Schülerinnen und Schüler, Bürgerinnen und Bürger aus Stadt und Land im überfüllten Hörsaal 5 unserer Universität. Dort sprach der derzeit wohl wichtigste politische Gegenwartsphilosoph, Prof. Dr. Jürgen Habermas, vor ca. 700 Zuhörerinnen und Zuhörern zum Thema „Aus Katastrophen lernen? Ein Rückblick auf das kurze 20. Jahrhundert“.

Unbequeme Fragen

Dem Magdeburger Philosophen Wolfgang Welsch war es gelungen, den bekannten Wissenschaftler als Redner für die fünfte Otto-von-Guericke-Vorlesung zu gewinnen. Viele waren an diesem Tag gekommen, um von dem linken Intellektuellen zuverlässige Orientierung in einer Zeit zu bekommen, die immer weniger von der lokalen Politik und immer mehr von der globalen Wirtschaft bestimmt wird. Aber statt wohlfeile Antworten zu präsentieren, übte sich der Denker in der philosophischen Kunst, unbequeme Fragen zu stellen.

Als zentrale Leitfrage, „die uns allen, und hier in Magdeburg mehr als anderswo, auf den Nägeln brennt“, formulierte Habermas angesichts von Armut und Einkommensdisparitäten, die sich sowohl im globalen Maßstab als auch innerhalb der westlichen Welt verschärfen: „Wie lange können wir es uns noch leisten, sozial verursachte Kosten auf die Teile der Bevölkerung abzuwälzen, die sich immer mehr als überflüssig für die Reproduktion der Gesellschaft im ganzen fühlen müssen?“ Während es im Bereich der lokal nicht mehr eingrenzbaren Risiken der Großtechnik und der industriellen Schadstoffproduktion der wohlhabenden Gesellschaften längst offensichtlich geworden ist, daß schon mittelfristig eine Externalisierung von Handlungsfolgen nicht mehr möglich ist, werden die sozialen Folgelasten einer sich zunehmend globalisierenden Wirtschaft Habermas zufolge auf gefährliche Weise ignoriert. Dies sei deshalb der Fall, weil es bisher nicht wirksam genug gelungen sei, der Entwicklungsdynamik transnationaler Konzerne „die Idee einer die Märkte einholenden Politik“ entgegenzusetzen.

Die Schwierigkeit des von Habermas skizzierten Projekts einer „global governance“ besteht darin, daß ein solches Projekt aus den gegebenen Interessen der Staaten und ihrer Bevölkerungen gerechtfertigt und von unabhängigen politischen Mächten verwirklicht werden müßte. Die Etablierung von größeren politischen Einheiten wie der Europäischen Union stellt dabei zwar einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar. Zugleich führt sie aber zu defensiven Allianzen gegenüber dem Rest der Welt. Sie ändert insofern nichts am Modus der Standortkonkurrenz als solcher. Um demgegenüber Elemente einer weltweiten politischen Willensbildung einzuführen, bedarf es nach Habermas supranationaler Institutionen, die „den marktgesteuerten transnationalen Verkehr hinsichtlich sozial und ökologisch unerwünschter Nebenfolgen in erträgliche Bahnen lenken können.“

In seinem Vortrag führte Habermas vor Augen, daß und wie die Globalisierung der Wirtschaft eine historische Konstellation zu zerstören droht, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Zu diesem Zweck bettete Habermas seine auf die Zukunft gerichteten Überlegungen zum Projekt einer aufgeklärten Kosmopolis in einen zeitdiagnostischen Rückblick auf das 20. Jahrhundert ein. Dabei machte er klar, daß sich die historisch entscheidenden Zäsuren der Geschichte nicht nach der Zahlenordnung des Kalenders richten, sondern ihre eigenen Rhythmen haben. Dem ‚langen’ 19. Jahrhundert (1789-1914) steht das ‚kurze’ 20. Jahrhundert (1914-1989) gegenüber. Während die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts von Phänomenen der Gewalt und Barbarei bestimmt wurden, war die 1945 einsetzende Nachkriegsperiode durch einen kulturellen Klimawechsel charakterisiert, der in den politischen Entwicklungen des Kalten Krieges, der Dekolonialisierung und des Aufbaus des Sozialstaates in Europa zum Ausdruck kam.

Abbau-Politik

In diesen Entwicklungen artikulieren sich Habermas zufolge die positiven Lehren, die das 20. Jahrhundert aus seinen Katastrophen gezogen hat. Doch die teuer bezahlten Errungenschaften des „sozialdemokratischen Zeitalters“ drohen im 21. Jahrhundert, das nach Habermas’ Zeitrechnung bereits begonnen hat, angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung in Vergessenheit zu geraten. An die Stelle des sozialstaatlichen Kompromisses tritt immer mehr eine neoliberale „Abbau-Politik“, welche die demokratische Stabilität der Gesellschaft auf eine harte Probe stellt. Die entscheidende Frage, die sich vor diesem Hintergrund für Habermas stellt, lautet: Können wir nur aus Katastrophen lernen, oder gibt es intelligentere Wege, die es uns erlauben, die Lehren, die wir aus vergangenen Katastrophen gezogen haben, für die Zukunft zu nutzen?

Eine Auswahl des Presse-Echos, das die Otto-von-Guericke-Vorlesung von Jürgen Habermas auch überregional ausgelöst hat, ist auf der Internet-Homepage des Instituts für Philosophie unter der Adresse http://www.uni-magdeburg.de/~iphi/aktuelles/Habermas5.html/">Hompage Presse Habermas zu finden.

Dr. Mike Sandbothe

Letzte Änderung: 08.06.1998 - Ansprechpartner: Webmaster